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Weltweit gingen in diesem Jahr trotz multipler Krisen und entsprechend hoher Unsicherheiten über 1.300 Unternehmen an die Börse. EY-Partner Dr. Martin Steinbach über die Wartestellung vieler kleiner und mittlerer Unternehmen in Deutschland, die Schwierigkeiten einer fairen Preisbildung in volatilen Zeiten und die Notwendigkeit eines Finanzierungsplan B.

GoingPublic: Sehr geehrter Herr Dr. Steinbach, Sie haben bereits viele Bullen- und Bärenphasen an den Aktienmärkten miterlebt. Halten Sie die aktuelle Situation der multiplen Krisen gepaart mit einem Zinsaufschwungszyklus für vergleichbar?

Hier finden Sie die GoingPublic IPO-Watchlist

Dr. Steinbach: Alle Auf- und Abschwungzyklen im Kapitalmarkt hatten eine eigene Dynamik wie auch Ursache und sind somit schwer vergleichbar. Zuletzt mit den Effekten aus COVID gab es einen neuartigen externen Schock für die Wirtschaft und den internationalen Kapitalmarkt. Nach einem Rekord-IPO-Jahr 2021 im deutschen und globalen Primärmarkt haben geopolitische Spannungen gleich zu Beginn des Jahres das positive Momentum abrupt gebremst, das IPO-Sentiment dominiert und die Volatilität an Kapitalmärkten deutlich erhöht, mit dem Ergebnis des Rückgangs der IPO-Aktivität anno 2022.

Zum Interviewpartner: Dr. Martin Steinbach ist Partner und IPO-Leader bei EY. Er verantwortet den Bereich IPO und Listing Services in Deutschland, der Schweiz und Österreich. Darüber hinaus leitet er das IPO-Leader-Netzwerk für Europa, Naher Osten, Indien und Afrika (EMEIA).

GoingPublic: Wenn Sie in diesen schwierigen Zeiten ein börsennotiertes Unternehmen oder einen Unternehmenslenker als Mutmacher ausloben sollten, wer würde Ihnen einfallen und warum?

Dr. Steinbach: Für den deutschen und europäischen Primärmarkt war 2022 sicherlich der gelungene Börsengang der Dr. Ing. h.c. F. Porsche AG in den Dimensionen Größe und Bekanntheit ein Aushängeschild im globalen IPO-Markt.

GoingPublic: Aber es kamen kaum Kandidaten nach, selbst der große Name Porsche konnte in dem schwierigen Umfeld die ersehnte „Eisbrecherfunktion“ nicht erfüllen.

Dr. Steinbach: Es sind gut vorbereitete Börsenkandidaten in der Pipeline, aber die Unsicherheit im Markt und damit verbundene Volatilität kann natürlich auch ein Porsche-Börsengang nicht beseitigen. Aber zur IPO-Readiness gehört ja immer auch der Finanzierungsplan B, gerade in immer weniger kurz- und mittelfristig planbaren Kapitalmärkten. Dies hat sich in diesem Jahr 2022 erneut für viele Kandidaten bewahrheitet, die interimistisch auf andere Finanzierungsformen und -wege flexibel ausgewichen sind. Im Jahr 2023 werden diejenigen Unternehmen sich schnell öffnende IPO-Fenster wahrnehmen können, die die Zeit genutzt haben und ihre strategischen Optionen gut vorbereitet haben.

Quellen: EY analysis, Dealogic.

GoingPublic: Wie beurteilen Sie das abgelaufene IPO-Jahr 2022 im Vergleich zu den Pandemiejahren 2020 und 2021?

Dr. Steinbach: Das herausfordernde Umfeld des IPO-Jahres 2022 hat weltweit zu einem Rückgang der IPO-Aktivität geführt, aber Regionen unterschiedlich getroffen. Den größten Rückgang bei Börsengängen verzeichnen die amerikanischen Märkte mit 78% und China mit einem vergleichsweise moderaten Rückgang von 25%. Im großen EMEIA-Raum – also Europa, Mittlerer Osten, Indien und Afrika – liegt die IPO-Aktivität bereits wieder auf den Niveaus von 2019 und 2020. Immerhin kamen mit mehr als 1.300 Börsengängen an jedem Handelstag gut fünf Börsenneulinge auf das globale Börsenparkett. Mit den unerwarteten Veränderungen der Rahmendaten im Umfeld geopolitischer Spannungen, insbesondere der hohen Inflation und der Zinswende, ist das doch eine bemerkenswerte Jahresbilanz.

GoingPublic: Was erwarten Sie für den Primärmarkt 2023 und welche Branchen sehen Sie als die chancenreichsten an?

Dr. Steinbach: Generell ist die Pipeline an Börsenkandidaten nach wie vor gut gefüllt. Weiterhin führt der Technologiesektor das IPO-Ranking der Top 3 Sektoren weltweit und in Europa an. Sektorübergreifend sind Equity Stories gefragt, die große Transformationsprozesse adressieren, zum Beispiel rund um die Energiewende. Investoren sind jedoch selektiver und suchen nach hochwertigen Equity Stories.

GoingPublic: Was genau gilt als hochwertig?

Dr. Steinbach: Viele Investoren legen mehr Wert auf ein nachhaltiges Geschäftsmodell mit einem klaren Profitabilitätspfad. Dabei ist eine klare Positionierung in den Bereichen ESG in Europa und zunehmend weltweit Standard und erschließt neue Investorenkreise.

GoingPublic: Zurzeit gibt es ja leider einige Aspekte, die eher einen abschreckenden Effekt auf Investoren haben.

Dr. Steinbach: Ja, Gift im Primärmarkt sind auf die kurze Frist vor allem die hohe Unsicherheit und Volatilität gepaart mit der Unvorhersehbarkeit des Kapitalmarkts selbst. Das macht eine Preisbildung im Bookbuilding für Investoren und Unternehmen schwierig. Angesichts der erheblichen Unsicherheiten im Markt und der Vielzahl an Krisenherden warten gerade kleinere und mittlere Unternehmen derzeit auf eine stabilere und positivere Marktstimmung.

GoingPublic: Sehen Sie Licht am Horizont?

Dr. Steinbach: Dass sich das IPO-Fenster wieder für alle öffnet, hängt von vielerlei Faktoren ab. Voraussetzung ist in jedem Fall die Auflösung der Unsicherheiten aus Investorensicht und ein Rückgang der Volatilität in wichtigen Kapitalmärkten. Dann kann 2023 ein gutes Jahr für Börsengänge werden.

GoingPublic: Dann hoffen wir mal das Beste. Herzlichen Dank für das Gespräch und das interessante Update zum IPO-Markt.

Das Interview führte Simone Boehringer.

Autor/Autorin

Simone Boehringer

Simone Boehringer ist die Redaktionsleiterin "Kapitalmarktmedien" der GoingPublic Media AG.