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Stillstand gibt es bei der Regulierung börsennotierter Unternehmen in Europa nicht. Seit Jahren reiht sich eine regulatorische Initiative an die nächste. Der Beitrag gibt einen Überblick über die wichtigsten aktuellen Regulierungen und wagt einen Ausblick auf die Themen, die nach der Europawahl voraussichtlich auf der politischen Agenda stehen werden.

Das Ende der Legislaturperiode in Brüssel ist traditionell von besonderer politischer Betriebsamkeit geprägt. So ist es auch dieses Mal.

EU Listing Act: Änderungen an der Ad-hoc-Publizität und im Prospektrecht

Im Februar 2024 haben sich die Mitgliedstaaten und das EU-Parlament auf den EU Listing Act geeinigt, dessen Ziel es ist, die Attraktivität einer Börsennotiz in Europa zu erhöhen. Der Listing Act ändert unter anderem die EU-Marktmissbrauchsverordnung (MAR) und die EU-Prospektverordnung, also zwei zentrale Rahmenwerke für börsennotierte Unternehmen.

Der Listing Act vollzieht einen PAradigmenwechsel, denn er entkoppelt für gestreckte Sachverhalte das Verbot des Insiderhandels von der Pflicht zur Veröffentlichung.

Neben einigen eher kosmetischen Anpassungen bei den Anforderungen an Marktsondierungen, Insiderlisten und Managers‘ Transactions betrifft die wesentliche Neuerung der MAR die Pflicht zur Ad-hoc-Veröffentlichung. Diese wird aktuell gleichzeitig mit dem Verbot des Insiderhandels ausgelöst und greift damit häufig sehr früh. Damit gehen nicht nur umfassende Dokumentations- und Prüfpflichten einher, sondern es entsteht auch Rechtsunsicherheit, ob und wann eine Information ad hoc zu veröffentlichen ist. Besonders komplex ist die Beurteilung der Meldepflicht bei gestreckten Sachverhalten wie bei M&A-Prozessen, bei denen Entscheidungen in Zwischenschritten über längere Zeit vorbereitet werden.

Der Listing Act vollzieht dahingehend einen Paradigmenwechsel, denn er entkoppelt für gestreckte Sachverhalte das Verbot des Insiderhandels von der Pflicht zur Veröffentlichung. Nach einer Übergangsperiode bis Mitte 2026 soll die Veröffentlichungspflicht künftig erst dann bestehen, wenn das Endereignis eines gestreckten Sachverhalts eingetreten ist. Allerdings zieht der europäische Gesetzgeber dies nicht konsequent durch: Im Fall von „Informationslecks“ müssen von der Veröffentlichung grundsätzlich befreite Insiderinformationen trotzdem ad hoc veröffentlicht werden. Damit müssen Emittenten auch künftig über den gesamten Prozess hinweg Ad-hoc-Mitteilungen vorbereiten, um bei Informationslecks sofort reagieren zu können. Außerdem ist noch unklar, was im rechtlichen Sinne als Endereignis gilt. Die geänderte MAR lässt hier Spielraum. Die EU-Kommission soll dazu eine indikative Liste veröffentlichungspflichtiger Informationen erstellen, die für die Auslegung und Anwendung der Neuregelung in der Praxis hohe Relevanz haben wird.

Im EU-Prospektrecht werden Sekundäremissionen von Aktien bereits an der Börse notierter Unternehmen spürbar erleichtert. Die Grenzen für prospektfreie öffentliche Angebote und Börsenzulassungen werden erhöht und ein EU-Folgeprospekt mit schlankeren Dokumentationsanforderungen geschaffen. Der Gedanke hinter diesen Änderungen leuchtet ein: Bereits notierte Emittenten sind aufgrund umfassender Berichts- und Offenlegungspflichten sehr transparent. Für Investoren sind deshalb vor allem die zusätzlichen Informationen relevant, die sich mit der Folgeemission ergeben. Dies lässt eine Reduzierung von Prospektverpflichtung und Prospektumfang zu, ohne dass dadurch der Investorenschutz Schaden nimmt.

Allerdings finanzieren sich viele etablierte kapitalmarktorientierte Unternehmen weniger über neues Eigenkapital, sondern vorwiegend über Fremdkapital. Die zukünftigen Prospekterleichterungen sind für die Begebung von Anleihen jedoch nicht nutzbar, da der sogenannte Basisprospekt, der für Anleiheemissionen meist die Grundlage bildet, nicht von den Vereinfachungen erfasst ist. In der kommenden europäischen Legislaturperiode sollten deshalb auch hier Vereinfachungen diskutiert und etabliert werden.

ESG-Ratings: neuer Regulierungsrahmen

Nach nur neun Monaten haben sich die Brüsseler Verhandler Anfang des Jahres auf einen einheitlichen Rahmen für ESG-Ratingagenturen geeinigt.

Um die Qualität der Ratingprozesse im ESG-Bereich zu stärken und der gewachsenen Bedeutung von ESG-Ratings für Investitionsentscheidungen Rechnung zu tragen, müssen sich ESG-Ratingagenturen ab 2026 bei der EU-Wertpapieraufsichtsbehörde ESMA registrieren. Dazu müssen sie verschiedene Organisations-, Verhaltens- und Transparenzanforderungen erfüllen. Unternehmen und Investoren bekommen dadurch deutlich mehr Einblick in die Ratingmethoden und deren Anwendung. Außerdem stärkt die EU-Verordnung den Dialog über Fehler oder andere Qualitätsmängel des Ratings. Unternehmen müssen über ein Erstrating vorab informiert werden und die Agenturen organisatorische Vorkehrungen für die Entgegennahme und zeitnahe Behandlung von Beschwerden treffen. Dies sind wichtige Verbesserungen.

Allerdings bleiben Lücken im Regelwerk. So nimmt die Verordnung nicht-profitorientierte Anbieter von ESG-Ratings aus, obwohl ihre Einschätzungen gleichermaßen in Investitionsentscheidungen einfließen. Außerdem ist nach dem Wortlaut der Verordnung noch unklar, ob auch sogenannte „Controversy Reports“ von ihr erfasst werden. Da eine einzelne ESG-Kontroverse zu Ausschlüssen aus Investmentportfolios führen kann, sollten entsprechende Analysen besonders hohen Qualitäts- und Transparenzstandards genügen. Ob dies mit Hilfe der Verordnung gelingt, wird sich noch zeigen müssen.

Nachhaltigkeitsberichterstattung: weiter hohe Schlagzahl

Keine Übersicht über regulatorische Entwicklungen ohne Nachhaltigkeit: Seit Dezember 2023 liegen die sektorübergreifenden europäischen Standards zur Nachhaltigkeitsberichterstattung (European Sustainability Reporting Standards, ESRS) als Delegierte Rechtsakte vor. Die ersten Unternehmen müssen ab 2025 für das 2024er Geschäftsjahr nach diesen Standards berichten und ihre Berichterstattung einer Prüfung durch einen Wirtschaftsprüfer unterziehen.

Die Implementierung der ESRS ist ein echtes Mammutprojekt. Zwölf Standards umfassen mehr als 80 Veröffentlichungsvorgaben und summieren sich – je nach Wesentlichkeitsanalyse – auf bis zu 1.100 Datenpunkte. Hinzu kommt, dass die Nachhaltigkeitsinformationen im Lagebericht dem European Single Electronic Format (ESEF) unterliegen. Informationen müssen dazu in eine XHTML-Datei verwandelt und mittels iXBRL gekennzeichnet werden. Wie die Erfahrungen aus der entsprechenden ESEF-Verpflichtung für Jahresfinanzberichte zeigen, ist dies komplex, aufwendig und fehleranfällig.

Die den Standards innewohnende Komplexität wird dadurch verschärft, dass für die Umsetzung erforderliche Vorgaben noch nicht vorliegen. So wird die digitale Taxonomie für die iXBRL-Kennzeichnung voraussichtlich erst Mitte 2025 finalisiert, mit dem CSRD-Umsetzungsgesetz ist nicht vor November 2024 zu rechnen, und auch die die EFRAG, die für die Entwicklung der Standards zuständig ist, arbeitet noch an ihrer Guidance zur Materialitätsanalyse und Wertschöpfungskette.

Die Umsetzung der Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) in deutsches Recht darf deshalb nicht noch zusätzliche Erschwernisse schaffen. Der Referentenentwurf, der seit Mitte April 2024 vorliegt, erfüllt diesen Anspruch nicht, denn er verlangt, ESEF bereits bei der Aufstellung des Lageberichtes anzuwenden (Aufstellungslösung). Dies erzeugt unnötige zusätzliche Rechts- und Prozessrisiken. Sachgerecht wäre deshalb, ESEF wie bei der Finanzberichterstattung nur für die Offenlegung der Nachhaltigkeitsinformationen zu verlangen (Offenlegungslösung).

Lieferketten-Compliance

Nach zähem Ringen hat schließlich auch noch die europäische Lieferkettengesetzgebung (Corporate Sustainability Due Diligence Directive, CSDDD) den Gesetzgebungsprozess rechtzeitig vor Ende der Legislaturperiode passiert. Der finale Text enthält zwar im Vergleich zu früheren Fassungen Erleichterungen für Unternehmen, beispielsweise beim Anwendungsbereich und bei den Haftungsvorschriften. Dennoch ist mit erheblichen Schwierigkeiten der Anwendung der Richtlinienvorgaben zu rechnen, unter anderem weil es zahlreiche unbestimmte Rechtsbegriffe und unklare Definitionen gibt. Darüber hinaus enthält die CSDDD Öffnungsklauseln für nationale Regelungen, beispielsweise in Bezug auf die Prozessführungsbefugnis Dritter zur Durchsetzung von Ansprüchen bei Rechtsverletzungen. Die Chance, einen Flickenteppich nationaler Regelungen zu verhindern und dabei ein für die Unternehmen gut handhabbares Regime zu etablieren, ist also leider vertan worden.

Ausblick: neue Impulse für die Kapitalmarktunion?

Nach der Europawahl wird sich das Regulierungskarussell zu den EU-Kapitalmarktregeln weiter drehen. Zum einen stehen zu den Neuregelungen der zu Ende gehenden Legislaturperiode noch viele Delegierte Rechtsakte und nationale Umsetzungsprozesse aus. Zum anderen kommen Vorhaben wieder auf die Agenda, die nicht zu Ende geführt wurden. Dazu zählen unter anderem:

• die Überarbeitung der EU-Offenlegungsverordnung (Sustainable Finance Disclosure Regulation, SFDR), bei der die Berichtspflichten von Anbietern von Investmentfonds und anderen Finanzmarktprodukten besser mit der Nachhaltigkeitsberichterstattung der Unternehmen verzahnt werden muss;

• die Überarbeitung der EU-Aktionärsrechterichtlinie, die zum Beispiel Diskussionen zur Regulierung von Stimmrechtsberatern und den Prozessen der Hauptversammlung erwarten lässt;

• die mögliche Überarbeitung der EU-Wirtschaftsprüferverordnung, bei der zu erwarten ist, dass auch die Diskussion zu Joint Audits wieder auflebt;

• die Implementierung des zentralen ­Datenportals (European Single Access Point, ESAP) für Pflichtinformationen von Finanzmarktteilnehmern, das bei der ESMA entstehen wird.

Fest steht, dass leistungsstarke Kapitalmärkte viel zur Innovationskraft und Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen beitragen.

Diese und ähnliche Initiativen sind verknüpft mit dem politischen Wunsch, neue Impulse für die Kapitalmarktunion zu setzen. Die Mitgliedstaaten der Eurogruppe haben dazu Anfang März 2024 erste Vorschläge unterbreitet. Mit dem Noyer-Bericht setzt auch Frankreich derzeit politische Impulse. Dabei rücken unter anderem die Belebung der Verbriefungsmärkte, die Schaffung eines kapitalmarkorientierten europäischen Sparprodukts sowie die Zentralisierung der Wertpapieraufsicht in den Fokus.

Die Kapitalmarktunion ist wiederum nicht losgelöst von anderen politischen Zielen zu betrachten, insbesondere der nachhaltigen Transformation der Wirtschaft und der Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit. Gleich mehrere hochrangige Berichte werden diesbezüglich politische Impulse setzen. So hat Enrico Letta Ende April seinen Bericht zur Zukunft des Binnenmarktes vorgelegt, der auch ein Kapitel zur Kapitalmarktentwicklung enthält. Ende Juni wird dann Mario Draghi einen weiteren Bericht zur europäischen Wettbewerbsfähigkeit vorlegen.

Fazit

Fest steht, dass leistungsstarke Kapitalmärkte viel zur Innovationskraft und Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen beitragen. Um diese zu erreichen, muss bei den Kapitalmarktregeln mit Bürokratieabbau und konsistenten Regelungsansätzen ernst gemacht werden. Ursula von der Leyen hatte im Frühjahr 2023 angekündigt, die Berichtspflichten der Unternehmen um 25% zu reduzieren. Die nächste Legislaturperiode wird deshalb auch daran zu messen sein, ob dies gelingt.

Autor/Autorin

Dr. Gerrit Fey

Dr. Gerrit Fey leitet den Fachbereich Kapitalmärkte beim DAI.

Dr. Uta-Bettina von Altenbockum

Dr. Uta-Bettina von Altenbockum ist Leiterin Kommunikation und Fachbereich Nachhaltigkeit des Deutschen Aktieninstituts e.V. (DAI) in Frankfurt/Main.