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Dieser Artikel ist Teil des neuen HV Magazins 1/2025, welches vor kurzem erschienen ist.

 

Stephan Wehrle, 54, betreut seit über 20 Jahren TV-Produk­tionen und hat langjährige Erfahrungen bei großen und ­kleinen Events wie Sportgalas oder politischen Symposien. Als Regisseur war der Kölner bisher bei rund 50 Hauptversammlungen von meist mittelgroßen Unternehmen im ­Einsatz.

HV Magazin: Was macht ein Regisseur bei Hauptversammlungen?

Wehrle: Generell zeichnet der Regisseur für den Gesamtablauf einer Hauptversammlung verantwortlich. Ich vergleiche diese Funktion gerne mit der eines Orchesterdirigenten. Dort gibt es verschiedene Musikstimmen, Instrumente und Solisten – der Dirigent bringt sie alle zu einem Klangkörper zusammen. Ich stelle sicher, dass am Tag der HV alle vorbereiteten Inhalte da sind und sich alle Beteiligten im Saal an ihren ­Positionen befinden. In Absprache mit dem Versammlungsleiter starte und steuere ich dann die Veranstaltung.

Sie sind aber auch bereits im Vorfeld eingebunden, oder?

Genau. Das, was am Tag der HV passiert, ist besprochen und einstudiert. Im Vorfeld schließe ich mich mit verschiedenen Abteilungen der Gesellschaft zusammen: Juristen schreiben den Leitfaden, das Marketing ­liefert ein Imagevideo, Grafiken kommen von der Kommunikationsabteilung. Ich lasse mir erklären, ob es besondere Inhalte gibt, die vom normalen Leitfaden abweichen; das können Wahlen, Verabschiedungen oder ­eine zusätzliche Präsentation sein. Außerdem tauschen wir uns aus über Bühnensettings, Hintergründe, Grafiken, Präsentationen, Video­zuspielungen oder Wünsche im Technik­bereich. Soll es ein Rednerpult geben oder trägt der Vorstand frei im Stehen vor? Ich ­versuche also, herauszuhören, wie sich das Unternehmen darstellen möchte.

Gleichzeitig bin ich in dieser Phase beratend tätig. So sind im Leitfaden oft kleine Lücken oder Unsicherheiten enthalten, auf die ich hinweise. Ein klassisches Beispiel: Oft wird der Satz „Dafür unterbreche ich jetzt die Versammlung“ oder „Wir sehen uns gleich wieder“ nicht gesagt. In solchen Fällen entsteht dann eine Lücke. Wenn ich den Leitfaden durchlese, läuft vor meinem geistigen Auge bereits die Veranstaltung ab. Ich weiß dann direkt, was an dieser und jener Stelle passieren sollte.

Wo sitzen Sie während der Veranstaltung – hinten am großen Mischpult?

Genau. Am Tag der HV läuft alles bei mir zusammen. Ich leite während der Veranstaltung vor allem das Technikteam und habe zudem einen direkten Draht zum Versammlungsleiter, sowie eine enge Verbindung zum Vorstand und zu den Leuten im Umfeld wie Juristen oder Berater. Wenn ich noch einmal das Orchesterbild nehme: Als Dirigent nehme ich meinen Taktstock hoch und signalisiere: „Jetzt geht’s los.“ Aber ob der Sologeiger sein Solo beherrscht oder ob die anderen Instrumentalisten im richtigen Moment ihre Noten ablesen, darauf habe ich keinen Einfluss. Die Protagonisten, also insbesondere Vorstand und Versammlungsleiter, müssen natürlich ihre Inhalte liefern.

Was sind die Herausforderungen in Ihrem Beruf?

Foto: © Simon Bierwald

Ich habe den Anspruch, dass sich die Personen, die die Versammlung mit Inhalten füllen und lenken, sicher und gut beraten fühlen. Das gilt insbesondere für Vorstand und Versammlungsleiter. Sie können sich darauf verlassen, dass es im Technikteam jemanden gibt, der weiß, wie die HV ­abläuft, und sich um alles kümmert – ob es nun eine virtuelle oder eine Präsenz-HV ist.

Zudem rate ich den Unternehmen, den Ablauf vorher zu proben. Dabei sitze ich immer in der ersten Reihe, nahe am Vorstand. Es gibt Vorstände, die ich ein Jahr nicht gesehen oder noch gar nicht kennengelernt habe. Da versuche ich, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. Das ist eine Herausforderung, weil jeder anders ist. Ich muss herausfinden: Wie ist das Gegenüber, was braucht es von mir? Am Ende kenne ich seine Vision und Wünsche. Damit beginnt für mich die zweite Herausforderung, denn ich muss all das in Technik übersetzen und das Technikteam führen. Dabei sind verschiedene Elemente zu steuern – Licht, Ton, Präsentationen, Zuspielungen, Kameras. Bei Onlineveranstaltungen ist zudem die aufwendigere Bildregie sehr wichtig. Der Regieaufwand ist hier noch einmal höher als bei Präsenzveranstaltungen.

Sind Proben vor HVs üblich?

Absolut. Ein großer Autokonzern probt ­beispielsweise vor der HV mehrere Tage mit einem Regisseur. Da werden die Kamera­positionen und -wechsel einstudiert, und es wird exakt festgelegt, wo der Vorstandsvorsitzende z.B. vor einem neuen Lkw steht. Gleichzeitig läuft dann eventuell hinter ihm auf einer großen LED-Wand noch eine Animation ab.

Wie lange proben Sie?

Immer einen Tag. Erst studieren wir mit dem Kamerateam verschiedene Positionen ein. Am Nachmittag kommt dann der Vorstand dazu. Bei Onlineübertragungen gibt es zudem eine Besonderheit im Vergleich zur Präsenz-HV. Am Probentag wuseln noch viele Leute herum. Wenn aber die Onlineübertragung beginnt, herrscht in dem Raum plötzlich Totenstille. Das ist für jemanden, der ungeübt ist, eine seltsame und ungewohnte Situation. Der CEO sitzt dann allein mit seinen Vorstandskollegen da, alles ist hell erleuchtet, er schaut in eine Kamera hinein und erkennt andere Leute hinter den Bildschirmen nur schemenhaft.

Was sind typische Fehler bei der Organisation und Durchführung von Hauptversammlungen, wo greifen Sie ein?

Ich versuche, ein Gespür dafür zu ent­wickeln, wie eine lange fortlaufende Veranstaltung abläuft, ohne dass große Lücken entstehen, in der sich alle fragend anschauen, wie sie jetzt weitermachen sollen – ­immerhin ist das Ganze live. Mir ist außerdem wichtig, dass der Versammlungsleiter immer weiß, an welcher Stelle er gerade ist. Das gilt besonders für den Q&A-Bereich. Spannend ist z.B., wenn die Antworten noch nicht vorliegen und deshalb unterbrochen werden muss, oder wenn unvorhergesehene Dinge passieren. Ich kann mich in solchen Situationen über das Studiokommando direkt zum Versammlungsleiter durchschalten und z.B. sagen: „Wir machen jetzt weiter mit der nächsten Wortmeldung.“

Können Sie Beispiele nennen, in denen Sie sich eingeschaltet haben?

Es gab mal einen Versammlungsleiter, der hat nach der Abstimmung die Ergebnisse nicht verkündet. Ich habe mich dann reingeschaltet und gesagt: „Verzeihung, Sie müssten erst die Ergebnisse vorlesen.“ Ein andermal hatten wir einen renitenten Aktionär, der in 15 Minuten über 100 Fragen ­abgefeuert hat. In solch einem Fall wird im Hintergrund besprochen, wie man damit umgeht. Können wir die Redezeit begrenzen? Was ist erlaubt? In Absprache mit allen wird dann an den Versammlungsleiter übermittelt, wie weiter vorgegangen wird.

Welchen eigenen Input versuchen Sie, in Hauptversammlungen hineinzubringen?

Im Grunde ist eine HV ja eine eher nüchterne Veranstaltung mit juristischem Rahmen. Innerhalb dessen versuche ich, eine Situation herzustellen, in der es auch mal locker und unterhaltsam zugehen darf, wo ein ­Vorstandsvorsitzender nicht nur abliest, sondern auch mal frei eine zusätzliche Bemerkung machen kann. Das geht am besten, wenn sich alle wohlfühlen. Außerdem versuche ich immer, zusätzliche Elemente einzubringen, z.B. beim Bühnendesign und besonders bei der Livekameraführung und -gestaltung. So kommt bei der einen oder anderen Gesellschaft und entsprechender Größe und Motiven auch mal ein Kamerakran oder eine wackelfreie Steadycam zum Einsatz, mit der man nah an die Protagonisten rangehen kann. Das schafft Dynamik und Abwechslung. Während der Coronapandemie habe ich vorgeschlagen, dass in virtuellen Hauptversammlungen jemand stellvertretend für die Aktionäre die Fragen an den Vorstand und Aufsichtsrat stellt. Das war lebhafter, als alles trocken von denselben Personen vorlesen zu lassen.

Warum ist ein Regisseur bei einer Hauptversammlung sinnvoll?

Grundsätzlich lohnt es sich, mit einem Regisseur zu arbeiten, wenn man sich mit ­einem externen Fachmann austauschen möchte, wie man sich auf der HV präsentieren könnte. Ein weiterer Vorteil des Regisseurs besteht darin, dass er zentraler­Ansprechpartner ist. Bei Gesellschaften, die ihre Hauptversammlung selbst organisieren, kommt der Lichtmann und stellt Fragen, dann kommt der Tonmann und stellt seine Fragen etc. Das sind Dinge, die ich zusammenfasse. Die Gesellschaften geben das in meine Hände und können sich darauf verlassen, dass am Tag der HV alles vorbereitet ist. Unternehmen, die bereits mit einem Regisseur zusammengearbeitet haben, wollen in der Regel nicht mehr darauf verzichten.

Das Interview führte Thorsten Schüller.


Zum Interviewpartner

Stephan Wehrle

TV-Producer und HV-Regisseur

regie@steph-wehrle.de

Autor/Autorin

Herr Thorsten Schüller
Thorsten Schüller
Freier Wirtschafts- und Finanzjournalist

Freier Wirtschafts- und Finanzjournalist. Für GoingPublic Media betreut er das viermal jährlich erscheinende HV Magazin.