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Wie bereits 2020 ab April und im gesamten Jahr 2021 wurden auch 2022 beinahe alle Hauptversammlungen virtuell nach dem „COVID19-Gesetz“ bzw. der dann bis zum 31. August 2022 geltenden Übergangsregelung ausgerichtet. In einer Untersuchung hatte das HV Magazin im Dezember 2021 erstmals nachgewiesen, dass bereits rund ein Drittel der Emittenten im Prime Standard (ca. 300 Unternehmen) im Jahr 2021 für die virtuelle Aktionärsversammlung eine externe Location nutzte, und nicht mehr die hauseigenen Räumlichkeiten. Zunehmende Anforderungen an die Technik (Licht-, Ton-, Kamera- und Streamingtechnik), aber auch eine wachsende Zahl professioneller Anbieter führten zu dieser Entwicklung. Wie ging die Entwicklung nun 2022 weiter? Wer sind die Gewinner und Verlierer auf Seiten der Location & Technik-Anbieter? Und was kann man daraus für 2023 ableiten?
2023 ist nach drei Jahren Ausnahmezustand die erste Saison mit „echten“ Wahl-Möglichkeiten für Emittenten. Das HV Magazin hat sich im Rahmen einer Untersuchung im November 2022 wieder mit allen Hauptversammlungen im Prime Standard, dem Börsensegment mit den höchsten Transparenz- und Publizitätsanforderungen, beschäftigt. Dabei wurde zunächst erneut der Frage nach gegangen, wo die virtuelle Hauptversammlung 2022 denn tatsächlich stattgefunden hat – in den eigenen Räumlichkeiten oder andernorts? Von wo wurde „getagt“ und „gestreamt“…?
12 Firmen im Prime Standard tagten 2022 in Präsenz
Gegliedert wurde hier zunächst in die vier Gruppen DAX (40 Unternehmen), MDAX (50), SDAX (70) und Prime Sonstige (145); insgesamt also 305 Unternehmen (Vorjahr 303). Immerhin 12 von 305 Unternehmen hielten ihre HV physisch ab (Vorjahr fünf), bei weiteren sechs war der HV-Ort unklar oder es gab noch keine HV, zum Beispiel bei Börsenneulingen (Vorjahr zehn). Somit ergibt sich eine Grundgesamtheit von 287 Unternehmen (36 DAX, 50 MDAX, 68 SDAX, 133 Prime Sonstige; Vorjahr 288).
Durchaus überraschend das Ergebnis: Nur noch 172 Emittenten bzw. 60% (Vorjahr 194 bzw. 67%) nutzten die „eigenen vier Wände“ als Ort oder „Sendestudio“ für die Aktionärsversammlung anno 2022, 115 oder 40% (Vorjahr 94 oder 32,3%) der Prime-Standard-Emittenten streamten bereits aus externen Räumlichkeiten ins Netz.
Spezialisten in München und Berlin mit je 13 Hauptversammlungen
Die „Marktführerschaft“ an den Standorten München und Berlin behaupten bzw. ausbauen konnten das Haus der Bayerischen Wirtschaft (HBW) aus München mit 13 (Vorjahr 12) und GRÜNEBAUM Event-Logistik aus Berlin mit ebenfalls 13 virtuellen Hauptversammlungen (Vorjahr 8). Während das HBW bereits vor Pandemie-Zeiten im Ranking der deutschlandweiten (physischen) HV Locations immer recht weit oben stand, ist GRÜNEBAUM immer noch ein relativ junger Player am Standort Berlin, hat sich aber offensichtlich auf die „neue virtuelle HV-Welt“ sehr gut eingestellt mit dem Angebotsspektrum, bestehend aus Location-, Technik- und Streaming-Setup.
Blickt man über den Prime Standard hinaus, haben GRÜNEBAUM und das HBW nach eigenen Angaben sogar je über 30 Unternehmen mit HV-Dienstleistungen betreut. Neben der eigenen Event-Location begleiten beide Anbieter auch Emittenten in deren eigene Räumlichkeiten. Grünebaum mietet in Berlin teils auch weitere Räume zu, bevorzugt z.B. das Scandic Hotel am Kurfürstendamm. Für 2023 bietet GRÜNEBAUM mit „the burrow“ (zu Deutsch „der Fuchsbau“) eine neue Eventlocation. „Vielfalt und individuelle Präferenzen werden die Zukunft ausmachen“, so Katja Grünebaum. (siehe Interview) Nimmt man HBW, GRÜNEBAUM und weitere klassische Event-Locations mittlerer Größe zusammen, stellt diese Gruppe mit rund 40% den Löwenanteil der externen HV-Herbergen.
Comeback der Congress Center
Doch auch eine andere Gruppe feiert ihr Comeback: Messen und (ihren) Congress Centern wurde bereits das Ende ihres HV-Eventgeschäfts vorhergesagt, nachdem in drei Jahren Corona-Regime ihre Stärke – große Räumlichkeiten für viele Teilnehmer – nicht mehr wirklich gefragt war. Doch sie haben sich erstaunlich gewandelt. Wo früher der Versammlungsort im Vordergrund stand, ist es heute oft die Symbiose aus Raum, Technik und Service, die zu neuen Positionierungen im Wettbewerb führt. Im Bereich der Messen/Congress Center weist die HV Magazin Statistik fünfmal das CCD Congress Center Düsseldorf als externe HV-Location aus, viermal das m:con Congress Center Rosengarten (siehe das Gespräch mit Sabrina Bederke) und zweimal das Congress Center Essen. Zurück im Geschäft ist auch das ICM der Messe München. Hier tagten mit MTU Aero Engines (DAX) und Traton (SDAX) erstmals zwei Unternehmen aus dem Index-Universum virtuell.
Das HV Magazin zählt inzwischen zusätzlich weitere 15 virtuelle Locations aus dem Bereich Messe/Kongress, die mindestens einmal gebucht wurden. Gegenüber dem Vorjahr stieg die Anzahl der Buchungen durch Emittenten von 17 auf 28, was einem stattlichen Plus von 65% entspricht und stattliche 24,3% (Vorjahr 18,3%) vom Kuchen „externe virtuelle HV-Organisation“.
Deutsche Telekom in Präsenz im WCCB
Ebenfalls wieder zurück im Kreis der „HV-Ausrichter“ ist das World Conference Center in Bonn (WCCB). Hier gastierte mit der HV der Deutschen Telekom am 7. April das einzige große Publikums-aktionärstreffen in Präsenz. „Dass diese HV mit so vielen Aktionären bei uns im WCCB stattfand, hat uns natürlich sehr gefreut. Da wir über genügend Flächen verfügen, haben wir alle Präsenzbereiche und Cateringflächen großzügig geplant, die Anforderungen der Corona-Pandemie waren ja zu diesem Zeitpunkt weiterhin zu berücksichtigen“, so Jan-Michael Uhlig, Operativer Leiter des WCCB-Veranstaltungsmanagements. Mit der Covestro-Hauptversammlung begleitete man daneben auch wie im Vorjahr ein virtuelles Format eines weiteren DAX-Unternehmens. „Jede Hauptversammlung ist für uns eine anspruchsvolle Veranstaltung, egal, ob sie digital oder in Präsenz durchgeführt wird. Das Veranstaltungsformat der Hauptversammlungen bietet auch für die kommenden Jahre sehr viel Entwicklungspotenzial“, so Uhlig weiter.
Hotels stagnieren, Studios auf der Überholspur
Während gleichbleibend 10% der virtuellen Hauptversammlungen (12) in Hotels stattfanden wie im Vorjahr und sieben in Kanzleien und Notariaten (Vorjahr 9), steigt der Marktanteil der TV-, Technik- und Streaming-Studios. In der HV-Saison 2022 fanden hier von den Prime Standard-Unternehmen 22 (Vorjahr 14) und damit fast 20% die Location der Wahl für ihr virtuelles Aktionärstreffen. Dass für die „Studios“ gerade erst ein Markt entsteht, zeigen viele Beispiele: So die „Better Now Studios“ der Ambion GmbH, die an vier deutschen Standorten inzwischen mit ihren Streaming-Studios um Emittenten werben. 2022 fanden hier bereits die Hamburger Hafen und Logistik AG (Better Now Studio Hamburg), K+S (Kassel) und The Social Chain (Berlin) ihre virtuelle HV-Heimat.
Ein kurzer Auszug aus der Beschreibung zum K+S Live-Aktionärstreffen beschreibt gut die neue virtuelle HV-Welt: „Das großzügige Smart Set inklusive LED-Wand, sorgte für die ideale Kulisse, während die Beleuchtung mit KL-Panels und ETC-S4 realisiert wurde. Das neue digitale RTS Intercom-System garantierte perfekte Kommunikation in der Regie. Vor der Kamera unterstützte der Teleprompter die Redner*innen, während zwei HD-Kamerazüge das Bild einfingen und zwei Streams an bis zu jeweils 10.000 Zuschauende gesendet wurden. Ein schönes Beispiel für eine reibungslose digitale Produktion mit besonderen Ansprüchen.“
ProSieben Sat.1 Media wählte neu die Eisbach Studios in München, Evotec die Pixelgalaxie in Hamburg, OHB Technology die Streamlab Studios in Bremen oder Brockhaus Technologies die Westside Studios in Frankfurt. Aixtron blieb in den Squad Studios in Aachen.
Das nur einige Beispiele, die den Weg in die Zukunft weisen. „Schließlich bietet der Einsatz der virtuellen HV nach neuem Recht vielfältige Möglichkeiten, insbesondere für Publikumsgesellschaften, für AGs mit internationalem Aktionärskreis, aber auch für Aktionäre, die nicht extra zur HV anreisen müssen,“ weiß auch Klaus Schmidt, Geschäftsführer des Full-Service-HV-Dienstleisters ADEUS. „Idealerweise werden für den Dialog und die vollständige Ausübung der Aktionärsrechte in der Zukunft die Möglichkeiten der Digitalisierung im Sinne der Aktionäre und Gesellschaften voll eingesetzt.“, so Schmidt weiter. So darf man gespannt sein, wie sich die Anbieterwelt weiterentwickelt, wenn es in der neuen virtuellen HV gilt, virtuelle Wortmeldetische sowie zusätzliche Errungenschaften in der Post-Covid-Ära zu etablieren. Generell scheint der Weg dafür geebnet, dass die virtuelle Hauptversammlung dem traditionell physischen HV-Format immer näherkommt.
Fazit
Die Akzeptanz externer Locations für die virtuelle oder hybride Hauptversammlung steigt weiter. Bereits 40% der Unternehmen des Prime Standard gehen „außer Haus“ (Vorjahr 32%), was einem Zuwachs von rund 23% entspricht (115 nach 93 Unternehmen im Vorjahr). Die Beliebtheit der „externen HV-Organisation“ nimmt wie im Vorjahr mit sinkender Unternehmensgröße zu. Während in DAX und MDAX 28% bzw. 36% ihr digitales Aktionärstreffen extern durchführten, waren es im SDAX bereits 40% und im Bereich der „Prime Standard Sonstige“ zugeordneten Gruppe sogar 45%.
Börsennotierte Unternehmen schätzen es immer mehr, einen externen Versammlungsort gleich zusammen mit der technischen Infrastruktur zu buchen. Auch die immer besser auf die „neue virtuelle Welt“ gerüstete Schar der Anbieter, gerade aus dem Bereich der TV- und Streaming-Studios, hat die Zeichen der Zeit erkannt und lockt unter dem Motto „Alles aus einer Hand“. Aber auch die altgedienten und bewährten HV-Locations präsentieren sich wieder moderner und innovativer.
Im Hinblick auf 2023 werden die Karten noch einmal neu gemischt, und die Spannung steigt: denn zum einen wird die neue virtuelle HV noch einmal komplexer, zum anderen kehrt auch die physische HV zurück auf die Agenda. Und hybriden Formaten gehört sowieso die Zukunft – die HV Magazin-Prognose im Prime-Standard ist ein Verhältnis von 50:50. Die 50% virtuellen Hauptversammlungen werden wegen der zunehmenden Komplexität mehrheitlich in externen Locations stattfinden.
HV Magazin Locations-Studie 2022 – Key Learnings
- Bereits 4 von 10 Prime Standard-Unternehmen nutzten 2022 eine externe Location für ihre virtuelle HV. Ein Zuwachs von 23 % gegenüber dem Vorjahr!
- In der Gruppe „Prime Sonstige“ war das Verhältnis externe zu internen Locations sogar schon fast ausgeglichen (60 versus 73 bzw. 45 % versus 55 %).
- An den Standorten München und Berlin führen mit HBW und GRÜNEBAUM Event-Logistik weiter zwei Spezialisten die Rankings an.
- Congress Center stellen sich immer mehr auf die neue virtuelle oder hybride HV-Welt mit mehr Technik und weniger Publikum ein und gewinnen Marktanteile zurück.
- Die Vielfalt bleibt: 115 externe virtuelle Aktionärstreffen fanden in 75 verschiedenen Locations statt. Hotels, Kanzleien und Notariate sinken leicht in ihrer Bedeutung, TV- und Streaming-Studios erleben einen deutlichen Zulauf.
- Die HV-Saison 2023 wird spannend: Die neuen virtuellen Formate werden technisch noch anspruchsvoller, die physischen Aktionärstreffen kehren zurück.
Autor/Autorin
Markus Rieger ist Gründer und Vorstand der GoingPublic Media AG. Als „Brückenbauer“ zwischen Unternehmen und Investoren ist er gelegentlich auch als Autor von Analysen und Beiträgen tätig.