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ESG-Berichterstattung ist für viele Unternehmen kein Wunschkonzert, sondern gesetzliche Pflicht. Im laufenden Jahr werden die Zügel mit Implementierung neuer EU-Regeln zur Nachhaltigkeitsberichterstattung nochmals angezogen. Gleichzeitig machen Investoren und kritische Aktionärsgruppen zunehmend Druck und setzen Nadelstiche. Manche nutzen ESG gar als Deckmantel für fragwürdige Auftritte und Aktionen. Beobachter fürchten, dass HVs dadurch zunehmend ausgebremst werden. Und überhaupt: Wen interessieren die Aktivitäten hinsichtlich Umwelt- und Sozialstandards sowie guter Unternehmensführung wirklich? Was bringen sie? Ein Blick auf die Lage im Jahr 2024. Dieser und weitere Artikel zum Thema im HV Magazin 2/2024, das soeben erschienen ist.

Der Dachverband der Kritischen Aktionärinnen und Aktionäre gibt sich nicht mit Höflichkeitsfloskeln ab, sondern kommt auch in der HV-Saison 2024 direkt zur Sache: „RWE: Mit VollGAS in die Klimakatastrophe“. Oder zur Hauptversammlung der Deutschen Bank am 16. Mai 2024: „Milliardenkredite und -investments für Naturzerstörung, zu hohe Boni: Unsere Gegenanträge“. Unmissverständlich auch die Ankündigung anlässlich der Lufthansa-Aktionärsveranstaltung am 7. Mai: „Steigende CO2-Emissionen, unglaubwürdige Vergütung“.

Der Verband, ein Zusammenschluss von 29 Einzelorganisationen in Deutschland, setzt sich nach eigenen Angaben „für mehr Umwelt- und Klimaschutz, die Einhaltung von Arbeits- und Menschenrechten, mehr Transparenz, einen Stopp der Rüstungsproduktion und die Abkehr von Profitmaximierung zu Lasten Dritter bei großen börsennotierten Unternehmen“ ein – typische Themen in den Bereichen Environmental, Social und Governance (ESG).

Der Ansatz der Organisation ist forsch: „Wir analysieren und kritisieren die Aktivitäten von […] börsennotierten Konzernen.“ Das Mittel dafür sind HVs, auf denen Vertreter des Verbands ihr Rederecht wahrnehmen. Häufig gebrauchtes Instrument sind Gegenanträge. Beobachter haben den Eindruck, dass mit ESG-Anliegen manche HVs mittlerweile regelrecht lahmgelegt werden.

„Nachhaltigkeit wird bei Hauptversammlungen immer häufiger und immer direkter angesprochen“

Da stellt sich die Frage: Ist ESG für manchen Anteilseigner nur ein Mäntelchen, um Druck auf Vorstand und Aufsichtsrat auszuüben? Und: Was bringt ESG eigentlich? Ist es nur eine lästige Pflicht, die von den Unternehmen viel Aufwand erfordert, aber letztlich wenig Nutzen hat?

CSRD muss 2024 erstmals umgesetzt werden

Tatsache ist: ESG-Themen sind eine gesetzliche Vorgabe. Große und mittelgroße börsennotierte Unternehmen kommen daran nicht vorbei. Mit der europäischen Nachhaltigkeitsrichtlinie (Corporate Sustainability Reporting Directive; CSRD) werden die Regeln für die von Unternehmen zu meldenden Sozial- und Umweltinformationen nochmals angezogen. Damit soll eine „Kultur der Transparenz“ über die Auswirkungen von Unternehmen auf Mensch und Umwelt geschaffen werden. Diese müssen die CSRD-Anforderungen erstmals im Geschäftsjahr 2024 umsetzen.

Ingo Speich, Head of Sustainability & Corporate Governance bei Deka Investments, Foto: Deka Investments

Das schlägt sich auch in den HVs nieder. „Nachhaltigkeit wird bei Hauptversammlungen immer häufiger und immer direkter angesprochen“, konstatiert Ingo Speich, Head of Sustainability & Corporate Governance bei Deka Investments, gegenüber dem HV Magazin. Er plädiert, Nachhaltigkeit als Chance und nicht als lästige Pflicht zu verstehen. Die Berücksichtigung von ökologischen oder sozialen Aspekten in der Unternehmensanalyse helfe den Investoren, „das Anlageurteil zu schärfen und die Prognosegenauigkeit zu erhöhen“. Den stärksten Wertbeitrag liefert dabei nach seiner Ansicht das „G“, also die Governance, auch als gute Unternehmensführung bezeichnet. „Sehr häufig beobachten wir, dass sehr gut geführte Unternehmen überdurchschnittlich punkten können im ökologischen oder sozialen Bereich.“

Markus Dufner, Geschäftsführer Dachverband der Kritischen Aktionärinnen und Aktionäre, Foto: Privat

Auch Markus Dufner, Geschäftsführer beim Dachverband der Kritischen Aktionärinnen und Aktionäre, argumentiert, dass es sich heute kein Unternehmen mehr leisten könne, ESG außen vor zu lassen. Er weist darauf hin, dass die Firmen eng gesellschaftlich verknüpft seien und daher auch von dieser Seite unter Druck stünden, Standards beim Umweltschutz, in sozialen Bereichen und der Unternehmensführung einzuhalten: „Klimaschutz steht bei vielen Menschen ganz weit oben – das wird gesamtgesellschaftlich erwartet. Gleichzeitig sind die Unternehmen ein Teil der Gesellschaft und insbesondere dann sichtbar, wenn sie Konsumprodukte verkaufen. Konzerne wollen nachhaltig erscheinen.“ Letztlich, so Dufner, schlage sich dies „auch im Image der Konzerne nieder“.

„Wir investieren am liebsten in Unternehmen, die sich ambitionierte ESG-Ziele setzen und diese verlässlich verfolgen.“

Investoren senken den Daumen

Janina Bartkewitz, Managerin in der Abteilung ESG im Portfoliomanagement von Union Investment, Foto: Union Investment

Hinzu kommt, dass viele Investoren den Daumen senken, wenn ein Unternehmen seiner ESG-Berichterstattung nicht gerecht wird – so wie Union Investment. Janina Bartkewitz, Managerin in der Abteilung ESG im Portfoliomanagement, sieht in der nachhaltigen Transformation ein Schlüsselthema: „Wir investieren am liebsten in Unternehmen, die sich ambitionierte ESG-Ziele setzen und diese verlässlich verfolgen.“ Allerdings sei das noch nicht überall der Fall. Und: „Wir begrüßen, dass ESG-Ziele inzwischen in die variable Vergütung der Vorstände einfließen.“

Auch Deka-Manager Speich weiß, dass die Umsetzung von ESG-Anforderungen „sehr unterschiedlich“ verläuft und stark von der Branche abhängt. „Die perfekte Umsetzung gibt es nicht. Allerdings diskutieren wir heute nicht mehr über das Zielbild an sich, sondern über den Zeitpunkt, wann es umgesetzt sein sollte.“ Das sei vor fünf Jahren noch anders gewesen.

Energieerzeuger, Baustoffunternehmen und Chemie gefordert

In dem Zusammenhang berichtet Dufner, dass beispielsweise bei der Telekom das Bewusstsein für ESG weiter entwickelt sei als bei thyssenkrupp, RWE oder HeidelbergCement. Zwar hätten diese Unternehmen aufgrund ihrer Geschäftsinhalte auch andere Probleme zu schultern. Generell müssten Energieerzeuger, Baustoffunternehmen oder die Chemieindustrie aber bei ESG „noch viel entschlossener“ rangehen.

Wenn RWE, immerhin Deutschlands größter Stromerzeuger, heute von Green Energy, Windkraft und erneuerbaren Energien spreche, stimme das „leider nur zum Teil“. Dufner: „Nach wie vor hat der Konzern umfangreiche Aktivitäten bei fossilen Brennstoffen, und es werden zu große Kapazitäten für Gas aufgebaut. Der Braunkohlebergbau wird weiter betrieben. Das alles ist überhaupt nicht klimafreundlich.“

Die Folgen bei mangelnder ESG-Umsetzung können durchaus gravierend sein. Speich: „Signifikante Defizite können auf die Entlastung von Vorstand und Aufsichtsrat negativen Einfluss nehmen oder dazu führen, dass eine Person nicht wie geplant in den Aufsichtsrat gewählt wird. Auch eine unzureichende Berücksichtigung von ESG-Themen im Vergütungssystem und Vergütungsbericht kann zu einer Ablehnung führen. Beispielsweise fordern wir, dass mindestens 30% der langfristigen Vergütung auf Nachhaltigkeit abstellt.“

ESG-relevante Anliegen in HV-Saison 2024

In der HV-Saison 2024 erwartet die Deka vor allem Klarheit über die Meilensteine zur Erreichung von Klimaverpflichtungen. Zudem hätten die geopolitischen Entwicklungen eine deutlich höhere Bedeutung als vor drei Jahren und würden sich auch auf die Nachhaltigkeit niederschlagen, so Speich. Daher seien Lieferketten und Menschenrechtsthemen stärker in den Fokus gerückt. Dazu habe es auch Vorfälle bei Unternehmen aus dem DAX40 gegeben, die sich in der Bewertung negativ bemerkbar gemacht hätten. Schließlich spiele auch der neue Berichtsstandard CSRD eine Rolle: „Wir hinterfragen daher auch die Kompetenzen zur Nachhaltigkeit im Aufsichtsrat allgemein und speziell im Prüfungsausschuss“, so Speich. Letztlich müsse sich Nachhaltigkeit für Deka langfristig auszahlen, „entweder auf der Ertrags- oder auf der Risikoseite“.

Klare Vorstellungen in Sachen ESG hat man auch bei Union Investment. Bartkewitz: „Wir schauen genau hin bei der Klimastrategie der Unternehmen. […] Ab 2025 werden wir nicht mehr in CO2-intensive Unternehmen investieren, die sich weigern, vollständige langfristige Klimaziele zu veröffentlichen. Wir fordern umfassende Ziele auch für Scope-3-Emissionen, die es noch nicht bei allen Unternehmen gibt. Außerdem achten wir auf Diversität im Vorstand und den beiden Ebenen darunter sowie auf Ämterhäufung und Unabhängigkeit im Aufsichtsrat. Bei mangelnder Unabhängigkeit verweigern wir die Entlastung.“

Im Übrigen sieht sie Nachhaltigkeit nicht als Zustand, sondern als Prozess. „Unsere Forderungen, die wir oft von Jahr zu Jahr weiterentwickeln und nachjustieren, können von den Unternehmen zwar nicht sofort, aber nach und nach erfüllt werden.“ So wünsche sie sich, dass nach der GEA Group im MDAX nun weitere Unternehmen im DAX und MDAX die Forderung von Union Investment nach einem „Say on Climate“ erfüllen.

Herausforderungen für ESG

Problematisch kann die Umsetzung von ESG auf Konzernebene allerdings dann sein, wenn dies, wie von den Kritischen Aktionärinnen und Aktionären des Öfteren verlangt, mit Forderungen nach einer geringeren Gewinnausschüttung einhergeht. Dufner: „Da reagieren viele Investoren und auch Kleinaktionäre allergisch.“

Eine Herausforderung für die ESG-Berichterstattung sieht er auch aus den USA kommend. Dort schwinge das ESG-Pendel politisch bedingt gerade wieder zurück. „Die Republikaner sind ja bekannt dafür, dass sie nicht unbedingt mit den Klimaambitionen der Biden-Regierung übereinstimmen. Von daher wird das Ergebnis der US-Präsentationspräsidentschaftswahl im November auch ausschlaggebend dafür sein, wie es mit ESG weitergeht.“

Nicht zuletzt besteht die Gefahr, dass Finanzaktivisten Nachhaltigkeitsthemen in ihrem Sinne instrumentalisieren. Speich: „Dort ist Vorsicht geboten.“ Letztlich werde aber die Aktionärsdemokratie durch die Abstimmung zeigen, ob die Vorschläge konsensfähig sind.

Teil der Zivilgesellschaft

Auch wenn kritische Aktionäre oft nur einen geringen Aktienanteil an den Unternehmen halten, können sie Vorstand, Aufsichtsrat und Backoffice-Mitarbeiter auf HVs mit Gegenanträgen nerven. Andererseits weist Dufner darauf hin, dass seine Organisation einen Teil der Zivilgesellschaft abbilde und diese Stimme einbringen wolle. „Die Betroffenen, auch die aus dem Globalen Süden, wo viele deutsche Unternehmen tätig sind, müssen gehört werden.“

So wie bei den diesjährigen HVs von BASF und RWE – dort hat der Dachverband jeweils zehn Personen ermöglicht, das Wort zu ergreifen, darunter zwei Südafrikaner und ein Uigure. Dufner: „Wir glauben nicht, dass es genügt, einmal die Agenda durchzugehen. Natürlich sagen wir etwas zur Dividende, Entlastung und Neuwahlen in Vorstand oder Aufsichtsrat – aber da bleiben wir nicht stehen, sondern reden auch über soziale und Umweltthemen und das Lieferkettengesetz.“

Bisweilen erfolgreich

Manchmal erreichen sie damit auch etwas. So verweist der Chef der Kritischen Aktionärinnen und Aktionäre darauf, dass RWE vor Jahren ein Atomkraftwerk in Bulgarien mitfinanzieren wollte. Aufgrund seismologischer Bedenken gab es Warnungen – die Kritischen Aktionärinnen und Aktionäre sowie Umweltschützer aus Bulgarien informierten in der HV darüber. RWE entschloss sich schließlich, das Projekt nicht weiter mitzutragen; das Atomkraftwerk wurde nicht gebaut.

Oder BASF: Der Ludwigshafener Chemiekonzern hätte laut Dufner „nie zugegeben“, dass es in seiner Platinlieferkette in Südafrika zu schweren Menschenrechtsverletzungen gekommen sei, wenn kritische Aktionäre dies nicht 2016 auf der HV angesprochen hätten.

Im Übrigen zeige auch die Nichtentlastung des ehemaligen Bayer-Chefs Werner Baumann auf der HV 2019, dass ein Manager, der schwere Bedenken gegen die Übernahme von Monsanto außer Acht gelassen habe, eben doch zur Rechenschaft gezogen werden könne.

Dennoch ist Dufner klar, dass sich das Engagement seiner Verbandsmitglieder längst nicht immer in Abstimmungserfolgen niederschlägt. „Wir sind auf die Unterstützung anderer Investoren angewiesen“, stellt er fest. Mit Deka, Union Investment und anderen sei man stets im Gespräch. Im Übrigen braucht manche ESG-relevante Entscheidung nach seiner Erfahrung Zeit und fällt nicht unbedingt direkt auf einer HV. Letztlich sei es das Zusammenwirken von Zivilgesellschaft, Aktionärsvereinigungen und dem Management, das einen Bewusstseinswandel auslöse.

Fazit

ESG-Berichterstattung ist aus der Unternehmenswelt nicht mehr wegzudenken, auch wenn diese für die Firmen einen hohen Personal- und Ressourcenaufwand bedeutet. Dabei kriegen die Emittenten mittlerweile mächtig Druck von kritischen Aktionären und Investoren. Deren Argumente und Forderungen mögen lästig sein, oft sind sie aber berechtigt, passen in die Zeit und können dazu beitragen, dass die Unternehmen letztlich besser dastehen und wettbewerbsfähiger sind als zuvor. Schlichtweg ärgerlich und zeitfressend sind dagegen viele Aktionen von Aktivisten, die auf Krawall gebürstet sind oder HVs mit ihren peniblen, aber letztlich unbedeutenden Detailfragen nerven. Das braucht niemand.
Dieser Artikel stammt aus dem soeben erschienenen HV Magazin 02/2024.

Autor/Autorin

Thorsten Schüller
Freier Wirtschafts- und Finanzjournalist

Freier Wirtschafts- und Finanzjournalist. Für GoingPublic Media betreut er das viermal jährlich erscheinende HV Magazin.