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Die Pandemie hat zur breiten Digitalisierung von Hauptversammlungen in Deutschland beigetragen. Auf Basis einer gesetzlichen Interimsregelung hat ein Großteil börsennotierter Aktiengesellschaften, KGaA und SE 2020, 2021 und auch 2022 virtuelle Hauptversammlungen ohne physische Präsenz der Aktionäre und ihrer Bevollmächtigten geplant und durchgeführt. Im Februar hat das Bundesjustizministerium einen Referentenentwurf vorgelegt, wonach Gesellschaften und Aktionäre das Instrumentarium von klassischer Präsenzversammlung, hybriden Veranstaltungen und virtuellen HVs nebeneinander nutzen können. Eine Analyse.
Gemäß § 1 Abs. 2 des Gesetzes über Maßnahmen im Gesellschafts-, Genossenschafts-, Vereins-, Stiftungs- und Wohnungseigentumsrecht zur Bekämpfung der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie (GesRuaCOVBekG) können Aktiengesellschaften, SE und KGaA seit 2020 virtuelle Hauptversammlungen ohne physische Präsenz der Aktionäre und ihrer Bevollmächtigten abhalten. Das Gesetz wurde im Frühjahr 2020 zur Gewährleistung der Durchführbarkeit von Hauptversammlungen als Interimsregelung während der COVID-19-Pandemie geschaffen. Nach zweimaliger Verlängerung ist es bis zum 31. August 2022 befristet. Von den Möglichkeiten des Gesetzes haben die Gesellschaften flächendeckend Gebrauch gemacht. Um der Kritik der Aktionärsseite zu begegnen, hat man das Gesetz hierbei zum Jahreswechsel 2020/2021 nachgeschärft.
Zwar gibt es gerade von Aktionärsseite auch eine klare Kritik am GesRuaCOVBekG, allerdings konnte man in den vergangenen zwei Jahren sehen, dass u.a. mit Blick auf Abstimmungszahlen, Fragen/Antworten oder technischen Voraussetzungen das System sowohl von den Gesellschaften als auch von den Aktionären intensiv genutzt wurde. Im Grundsatz muss man daher feststellen, dass sich die virtuelle Hauptversammlung – unabhängig von der konkreten Ausgestaltung – in weiten Teilen der Praxis als passende Option zur Präsenzveranstaltung entwickelt hat. Schon vor der Bundestagswahl 2021 gab es daher eine offene Diskussion zu einer dauerhaften Regelung im Aktiengesetz. Auf der Grundlage des Koalitionsvertrags hat das Justizministerium die Diskussionen und Erfahrungen der letzten zwei Jahre in den am 9. Februar veröffentlichten Entwurf des Gesetzes zur Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften (RefE VHG) einfließen lassen.
Pandemieregel und Gesetzesentwurf im Vergleich
Der Entwurf soll virtuelle Hauptversammlungen dauerhaft ermöglichen und dabei die Aktionärsrechte stärker als das GesRuaCOVBekG berücksichtigen. Kern des Gesetzes bilden die neu ins Aktiengesetz aufzunehmenden Vorschriften § 118a AktG und § 130a AktG. Große Parallelen zwischen dem GesRuaCOVBekG und dem RefE VHG bestehen u.a. bei den physisch Anwesenden in der virtuellen Hauptversammlung, der dauerhaften Übertragung der Versammlung in Bild und Ton, der Möglichkeit der Stimmabgabe im Wege elektronischer Kommunikation, der elektronischen Widerspruchsmöglichkeit oder der 2021 eingefügten Bestimmung, dass rechtzeitige und ordnungsgemäße Gegenanträge und Wahlvorschläge als in der Hauptversammlung gestellt zu behandeln sind. Abb. 1 stellt die wesentlichen Unterschiede von GesRuaCOVBekG und RefE VHG einander gegenüber.
Kernpunkte der Stellungnahmen
Bis zum 11. März 2022 hatten Länder und Verbände die Gelegenheit zur Stellungnahme. Anschließend wurden 36 eingegangene Stellungnahmen auf der Internetseite des Ministeriums veröffentlicht. Verbände der Aktionäre und Gewerkschaften bemängelten darin die weiterhin fehlende „Gleichwertigkeit“ der Aktionärsrechte im Vergleich zur Präsenzversammlung und äußerten sich ernüchtert zu den Erfahrungen der vergangenen zwei Jahre. Sie befürworteten einen stärkeren Fokus auf hybride Formate. Demgegenüber kritisierten Vertreter auf Unternehmensseite u.a. die Befristung der Ermächtigung. Daneben wurden auch zahlreiche konkrete Verbesserungsvorschläge zu den einzelnen Regelungen des Referentenentwurfs übermittelt (u.a. mit Blick auf mögliche Windhundrennen bei Fragen/Stellungnahmen oder das Risiko von Ad-hoc-Mehrheiten bei Anträgen in der virtuellen Hauptversammlung).
Satzungsanpassung bereits in der HV-Saison 2022?!
Schon jetzt bereiten sich die ersten Gesellschaften im Rahmen der diesjährigen Hauptversammlungssaison aktiv durch eine Satzungsänderung auf die vom Referentenentwurf vorgesehene Ermächtigung vor. So hat EnBW in die Einladung zur Hauptversammlung am 5. Mai 2022 unter Tagesordnungspunkt neun eine Satzungsänderung als Beschlussgegenstand aufgenommen, wonach bis 2027 die Möglichkeit zur Durchführung virtueller Hauptversammlungen gestattet werden soll. Bislang ist dies noch eine Ausnahme. Sie zeigt jedoch den Willen der Gesellschaften, möglichst bald dauerhaft die gesetzgeberischen Möglichkeiten zur virtuellen Hauptversammlung nutzen zu können.
Hierbei ist allerdings zu beachten, dass jedenfalls der Referentenentwurf aktuell eine Übergangsvorschrift vorsieht, nach der bis Ende August 2023 – ähnlich dem GesRuaCOVBekG – eine virtuelle Hauptversammlung auch ohne entsprechende Satzungsregelung auf der Grundlage eines Vorstandsbeschlusses mit Zustimmung des Aufsichtsrats möglich sein soll (allerdings unter den weiteren Bedingungen des RefE VHG).
Übergangsregelung und Perspektive
Nach den Erfahrungen der vergangenen zwei Jahre spricht vieles dafür, die virtuelle Hauptversammlung als dauerhaftes Instrument gesetzlich zu verankern. Der Referentenentwurf versucht hierbei stärker als das GesRuaCOVBekG, die Interessen von Aktionären und Gesellschaften in Einklang zu bringen. Zudem enthält er zahlreiche Ansätze, Kommunikation und Anträge aus der Hauptversammlung ins Vorfeld der Versammlung zu verlagern. Aufgrund der unterschiedlichen Kritikpunkte, die nun in den Stellungnahmen geäußert wurden, bleibt abzuwarten, wie die endgültige Fassung des Gesetzes aussehen wird. Gerade kleinere und mittlere börsennotierte Gesellschaften werden hierbei überprüfen müssen, ob neben dem Blick auf die Aktionärsrechte die neuen Anforderungen und ggf. damit verbundenen Kosten eher für eine Präsenzversammlung oder eine virtuelle Hauptversammlung sprechen. Eine abschließende Bewertung des Gesetzesentwurfs sollte aufgrund der sehr unterschiedlichen Stellungnahmen noch abgewartet werden. Aufgrund der geplanten Übergangsregelung besteht aktuell jedenfalls auch kein zwingender Handlungsbedarf, um 2023 eine virtuelle Hauptversammlung unter dem künftigen gesetzlichen Rahmen durchzuführen. Wie bereits in einzelnen Stellungnahmen gefordert wird, sollte der Gesetzgeber allerdings darüber hinaus zeitnah auch eine Modernisierung der Präsenzhauptversammlungen erwägen.