Was sind die zurzeit wesentlichen Hürden der deutschen und europäischen Biopharmabranche – und wie könnten diese überwunden werden? Ein Dialog zwischen Dr. Sabrina Kuttruff-Coqui, CFO von AiCuris, und Dr. Thomas Taapken, CFO von InflaRx.

 

Dr. Kuttruff-Coqui: Deutschland wird oft als „Land der Dichter und Denker“ bezeichnet. Meiner Meinung nach ist das nicht nur historisch stimmig: Der weltweit bedeutsamste COVID-Impfstoff stammt schließlich von hier. Möglich wurde seine Entwicklung durch unser besonderes Mindset, aus dem Innovationen entstehen. Es ist eine Mischung aus Neugier, Kreativität, kritischem Denken und Gründlichkeit. Die Grundlage dafür sehe ich in unserem exzellenten Bildungssystem und unseren renommierten akademischen Einrich­tungen.

Unsere ,bürokratische Gründlichkeit‘ hemmt unsere Innovationskraft teils erheblich.

Dr. Thomas Taapken, CFO, InflaRx

 

Dr. Taapken: Richtig. Diese Ressourcen gilt es zu schätzen, zu schützen und zu ­fördern. Aber unsere „bürokratische Gründlichkeit“ hemmt unsere Innovationskraft teils erheblich. Damit wir hoch qualifizierte Fachkräfte weiterhin in Deutschland ausbilden und danach halten können, müssen wir verschiedene Hürden überwinden. Zum einen müssen wir sehr bedacht sein, die Qualität der naturwissenschaftlich-technischen Ausbildung in Schulen und Universitäten zu bewahren und zu verbessern – die Konkurrenz schläft nicht! Zum anderen müssen wir aber auch die Anbindung der akademischen Forschung an die Industrie verbessern, um attraktive Perspektiven für Wissenschaftler anbieten zu können. Unternehmensgründungen müssen stärker gefördert werden, beispielsweise durch Kurse für Gründer, funktionierende Inkubatoren und Acceleratoren an akademischen Einrichtungen sowie ein motivierendes Umfeld für junge Start-ups in diesem Bereich.

Wir haben den AiCubator ins Leben gerufen, um mit akademischen Gruppen schon ganz früh in Kontakt zu treten, sie zu unterstützen und auch Zugang zu anderen Technologien zu bekommen.

Dr. Sabrina Kuttruff-Coqui, CFO, AiCuris

 

Dr. Sabrina Kuttruff-Coqui, CFO von AiCuris. Copyright: AiCuris
Dr. Sabrina Kuttruff-Coqui, CFO von AiCuris. Copyright: AiCuris

Dr. Kuttruff-Coqui: Deshalb haben wir bei AiCuris den AiCubator ins Leben gerufen, um mit akademischen Gruppen schon ganz früh in Kontakt zu treten, sie zu unterstützen und auch Zugang zu anderen Technologien zu bekommen. Was unser Unternehmen aber am meisten hemmt, sind die langwierigen und komplexen ­regulatorischen und bürokratischen Prozesse: Hier sind die USA unserer Erfahrung nach schneller als Europa. Vor allem in Deutschland braucht man für viele Studien neben der Genehmigung der Zulassungsbehörde und Ethikkommission auch eine der Strahlenschutzbehörde. Kommt man dann mit einer genehmigten klinischen Studie zu den Studienzentren, trifft man auf eine erstaunliche Autonomie und komplexe Entscheidungsstrukturen – auf Ebene des Bundeslandes und der Klinik. Für einen Vertragsabschluss zwischen Zentrum und Sponsor bestehen deutliche Unterschiede im europäischen Vergleich: Frankreich benötigt dafür 24 bis 76 Tage, Deutschland mit 128 bis 298 Tagen mehr als viermal so lang.

Dr. Taapken: Ich gebe Ihnen ein anderes Beispiel: Wir haben in der Hochzeit der Pandemie in den Niederlanden unsere ­COVID-Studie in einer Woche durch die Klinikverwaltung genehmigt bekommen – in Deutschland haben wir weitere fünf Monate benötigt. Es müsste mehr um einfachere Lösungen gerungen werden. Wie vom Verband Forschender Arzneimittelhersteller (vfa) vorgeschlagen, könnte man bei der Einrichtung von Studien­zentren vermehrt auf standardisierte Verträge zurückgreifen. Allein diese Änderung könnte mehrere Wochen Verhandlungszeit einsparen.

Dr. Kuttruff-Coqui: Man muss aber auch ­anerkennen: Wenn in Deutschland ein Studienzentrum erst einmal eingerichtet ist, arbeitet es bei der Teilnehmerrekrutierung und Betreuung meist schneller, effizienter und hochwertiger als eines in den USA – was sich auch positiv auf die Qualität der generierten Studiendaten auswirkt. Das ist ein klarer Wettbewerbsvorteil. In den USA stehen Biotechnologieunternehmen in großen Zentren im direkten Wettbewerb mit Big Pharma. Teilweise konkurrieren hier bis zu 100 Studien um dieselben Patienten. Da steht man schnell am Ende der Schlange mit seiner klinischen Studie.

Wenn in Deutschland ein Studienzentrum erst einmal eingerichtet ist, arbeitet es bei der Teilnehmerrekrutierung und Betreuung meist schneller, effizienter und hochwertiger als eines in den USA – was sich auch positiv auf die Qualität der generierten Studiendaten auswirkt.

Dr. Sabrina Kuttruff-Coqui, CFO, AiCuris

 

Dr. Thomas Taapken, CFO von InflaRx. Copyright: InflaRx
Dr. Thomas Taapken, CFO von InflaRx. Copyright: InflaRx

Dr. Taapken: Dem stimme ich absolut zu. Dennoch stehen wir meines Erachtens vor einer Zeitenwende im Gesundheitssystem. Wenn man endlich eine Produktzulassung erhalten hat, trifft man auf die Herausforderungen einer erfolgreichen Vermarktung, z.B. Preisverhandlungen für die unterschiedlichen Märkte. In Deutschland laufen wir Gefahr, durch neue Erstattungsvorschriften eine Zweiklassenmedizin zu erhalten. Hersteller erwägen, Medikamentenzulassungen bewusst nicht in Deutschland zu beantragen oder sie sogar zurückziehen, da sich das für sie wirtschaftlich immer weniger lohnt. Die geplanten Änderungen im EU-Arzneimittelrecht geben ebenfalls wenig Anlass zur Hoffnung: Wenn die Zeitspanne für die Exklusivvermarktung von Produkten wie derzeit diskutiert von acht auf sechs Jahre verkürzt werden sollte, würde sich der Return on Investment für die Unternehmen deutlich verringern. Das könnte eine geringere ­Motivation bewirken, in europäische Biopharmaunternehmen zu investieren.

Dr. Kuttruff-Coqui: Zugleich erwägt die EU, die Bolar-Ausnahme [für die Entwicklung von Generika und Biosimilars trotz eines bestehenden Patents; Anm. Red.] auf die präkommerzielle und kommerzielle Phase auszudehnen. Das würde den Schutz des geistigen Eigentums weiter untergraben und den für die Finanzierung der Arzneimittelforschung so wichtigen Zeitraum ­eines „patentgeschützten Verkaufs“ noch weiter verkürzen – was ebenfalls Investoren abschreckt. Das wäre ein großer Nachteil für innovative Unternehmen wie uns, weshalb das Vorhaben gestoppt werden sollte.

Dr. Taapken: Schon allein das Vorhaben führt zu Unsicherheiten und schreckt US-Investoren ab, die sich für europäische Biopharmaunternehmen interessieren. Es stellt sich die Frage, wie die europäische Industrie vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen im weltweiten Konkurrenzkampf vor allem mit den USA mithalten soll. Es ist, als würde man sich selbst ­unnötige Hürden aufstellen, über die man dann springen muss.

Wir haben uns damals bewusst gegen ein deutsches oder europäisches Listing entschieden. Ja, der Aufwand für das Nasdaq-Listing ist sehr hoch – aber wir brauchen in Europa generell ein verbessertes Inves­torenökosystem.

Dr. Thomas Taapken, CFO, InflaRx

Dr. Kuttruff-Coqui: Eine andere Herausforderung ist der Zugang zu Kapital. Die Entwicklung eines Medikaments kann je nach Indikation bis zu mehreren Mio. oder sogar Mrd. EUR kosten. Den enormen Finanzierungsbedarf unserer Branche kann der Staat allein gar nicht über Fördertöpfe zur Verfügung stellen – deshalb sollten die ­Investitionsanreize verbessert werden. Weniger hohe Auflagen für Rentenfonds und Versicherungen könnten z.B. Risikokapitalinvestitionen fördern. Wenn das deutsche Aktiengesetz weniger restriktiv in Bezug auf Kapitalerhöhungen wäre, würde wahrscheinlich auch mehr internationales Kapital in unsere Unternehmen fließen.

Dr. Taapken: Wir haben uns damals bewusst gegen ein deutsches oder europäisches Listing entschieden. Ja, der Aufwand für das Nasdaq-Listing ist sehr hoch – aber wir brauchen in Europa generell ein verbessertes Investorenökosystem. In den USA gibt es nicht nur eine historisch ­gewachsene Aktienkultur, auch die US-­Investmentbanken verfügen über ein breiteres Netzwerk an unabhängigen und ­äußerst kompetenten Analysten, die weltweit beraten. Ich finde, man muss das ­Ganze wirklich von unten denken! In den USA gibt es dieses Ökosystem nicht, weil es eigens aufgebaut wurde, sondern es ist als notwendige Konsequenz aus einem ­hohen Kapitalanlagebedarf und der Eigenvorsorge der Amerikaner entstanden.

Dr. Kuttruff-Coqui: Auch in Europa könnten wir durch Eigenkapitalinvestitionen in ­Unternehmen Innovationen voranbringen, vor allem dann, wenn die Rahmenbedingungen leicht angepasst werden.

Dr. Taapken: Es bräuchte viel mehr Incentives, z.B. steuerliche Vorteile für Investi­tionen in innovative und risikoreichere Unternehmen, sowohl für die Institutionellen als auch im Privatbereich, oder die ­Anerkennung der Verlustvorträge bei Veräußerungsgeschäften, damit auch bei uns ein solches Mindset entstehen kann. Das Geld würde dann automatisch seinen Weg dahin finden, wo Innovation stattfindet.

Dr. Kuttruff-Coqui: Beim Stichwort Mindset bin ich wieder bei unseren „Dichtern und Denkern“, aber auch der deutschen Gründlichkeit. Wenn wir unsere Stärken kombinieren und akzeptieren, dass Fortschritt vor allem durch Fehlschläge generiert wird und Risikobereitschaft sich somit langfristig auszahlt, werden wir unsere Position im globalen Wettbewerb stärken und die Zukunft der deutschen und europäischen Biopharmaindustrie wieder aktiver gestalten.

Autor/Autorin

Redaktionsleiter Plattform Life Sciences at GoingPublic Media AG | Website

Urs Moesenfechtel, M.A., ist seit 2021 Redaktionsleiter der GoingPublic Media AG - Plattform Life Sciences und für die Themenfelder Biotechnologie und Bioökonomie zuständig. Zuvor war er u.a. als Wissenschaftsredakteur für mehrere Forschungseinrichtungen tätig.