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In Krisenzeiten erscheint die Realität oft verzerrt. Ist das auch bei unserem Blick auf die Biotechnologiebranche der Fall? Wie ist sie derzeit aufgestellt? Ist überall nur ein wirtschaftlicher Rückgang zu verzeichnen, oder stehen wir kurz vor dem nächsten Boom? Müssen wir unseren Blick auf die Branche ändern, um ihr wahres Potenzial zu erkennen? Die derzeitigen Herausforderungen – von der Pandemie bis hin zu geopolitischen Spannungen – werfen viele Fragen auf. Sind sie Innovationstreiber, die den Sektor vorantreiben, oder bremsen sie den Fortschritt aus?
Die Schatten an der Wand zeichnen in Platons’ Höhlengleichnis ein teils nicht reales oder nur bedingt vollständiges Abbild der Gegenwart. Es entsteht eine Welt von Ideen und persönlicher Reflexion durch das stetig wechselnde Licht- und Schattenspiel. Ähnlich scheint es sich mit der Bewertung der gegenwärtigen Krise zu verhalten, in der sich vermeintlich auch unsere Biotechindustrie befindet. Kant würde dem aber vielleicht entgegen: Unsere Sinne und Wünsche sind „Ausschnitte“ der Wirklichkeit. In der Hoffnung auf Orientierung interpretieren und konstruieren wir sie.
Wahrnehmung der Krise
Laut dem „Biotech-Report – Medizinische Biotechnologie in Deutschland 2024“ von BCG und vfa bio[1] ist der Umsatz für Biopharmazeutika und Biosimilars in den letzten Jahren in allen Anwendungsbereichen weiter stark gestiegen und es ist eine Reihe neuer Biopharmazeutika auf den Markt gekommen. Auch die Zahl der Beschäftigten hat zugenommen (allein in Bayern um über 10% laut unserem Report „Biotech in Bavaria 2023/2024“[2]).
EY schreibt in seinem letzten Deutschen Biotechnologie Report[3], dass die Kapitalaufnahme im Jahr 2023 auf 1,1 Mrd. EUR stieg – ein Plus von 17% im Vergleich zum Vorjahr. Der aktuelle Wert liegt laut EY damit wieder in etwa auf dem Vorpandemieniveau, allerdings immer noch signifikant unter den Erfolgsjahren 2020 und 2021.
Im Verlauf der Coronakrise konnten Biotechunternehmen auch deutliche Umsatzzuwächse erzielen oder ganz neue Geschäftsbereiche entwickeln. Dennoch gab es hierzulande erneut keinen Börsengang (IPO) eines deutschen Biotechunternehmens. Diese fanden wie schon in der Vergangenheit allesamt an der US-amerikanischen NASDAQ statt. Dies ist sicherlich ein Schatten an der Wand, ebenso wie das Minus des Gesamtumsatzes der Biotechbranche im Jahr 2023 von 51% im Vergleich zum Vorjahr.[4] Dieser Umsatzeinbruch ist vor allem auf die rückläufige Nachfrage nach COVID-19-Impfstoffen nach der Coronakrise zurückzuführen.
Der BiotechnologieSektor bringt konsequent innovative Technologien und Produkte hervor, die langfristig das Potenzial haben, überdurchschnitt lich hohe Renditen zu erzielen.
Besonders herausfordernd ist nach wie vor die Frühphasenfinanzierung zu Beginn der Unternehmensgründung: 2023 wurde Kapital in Höhe von 203 Mio. EUR von Biotech-Start-ups in der Frühphase eingesammelt, was den geringsten Wert der vergangenen sechs Jahre darstellt und auch deutlich unter dem Schnitt dieses Zeitraums liegt.[5]
Reaktion der Politik
Am 29. Juli 2024 fand in München gemein sam mit dem Verband Forschender Arzneimittelhersteller e.V. (vfa) der Bayerische Pharmagipfel 2024 statt. Bayerns Gesundheitsministerin Judith Gerlach und der bayerische Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger sowie weitere Industriepartner verständigten sich auf konkrete Handlungsfelder bzw. Ziele und Maßnahmen, um durch nachhaltige Innovationen und digitale Lösungen allen Patientinnen und Patienten Zugang zu modernster Diagnostik und Therapie zu ermöglichen.
Die Branche benötige, so der Tenor, insgesamt stabile und innovationsfördernde Rahmenbedingungen, um den medizinischen Fortschritt sicherzustellen und das große Potenzial der medizinischen Biotechnologie in Deutschland zu heben. Auch im Masterplan.Pharma BPI[6] wird ein „Pharmatempo“ gefordert, um den Wirtschaftsstandort mit allen seinen Arbeitskräften zu stärken und zu fördern. So war und ist ein Aufbruch für Innovationen und Investitionen laut Koalitionsvertrag 2021 Ziel der Ampelkoalition im Bund. Allerdings wurden in Deutschland auch laut EY-Report 2024 nur 0,01% des BIP in die Biotechnologie investiert, während es im restlichen Europa immerhin 0,02% und in den USA sogar 0,05% waren.
Crisis? What Crisis?
Gab es vor rund 20 Jahren noch relativ wenige Biotechfirmen und entsprechend wenige Produktentwicklungen in diesem Geschäftsfeld, so stammt mittlerweile das Gros neuer innovativer Wirkstoffe aus diesem Wirtschaftssektor. Laut Statista 2024 stieg der Anteil der Biotechnologie am weltweiten Pharmaumsatz seit 2006 von 14% auf 39% im Jahr 2022, mit einem weiteren zu erwarteten Wachstum auf 44% anno 2028.[7] Laut capinside.com stammen rund 70% aller in der klinischen Entwicklung befindlichen Arzneimittel von Biotech firmen. Allein von 2017 bis 2021 stiegen die Zulassungen neuartiger Medikamente durch die Food and Drug Administration (FDA) um mehr als 50% im Vergleich zum Fünfjahreszeitraum des vorangegangenen Jahrzehnts. So haben die zehn besten Biotechaktienfonds eine durchschnittliche Performance in den letzten drei Jahren von 11,9%, in den letzten fünf Jahren von 49,6% und über zehn Jahre von 135,5%.[8] Die Portfolios werden getragen durch Unternehmen wie Vertex, Amgen, Lilly und sind überwiegend US-basiert. Leider sind die Ergebnisse deutscher Unternehmen und selbst des gegenwärtigen europäischen Branchenprimus Novo Nordisk davon weit entfernt und auch die besten ETFs und Mischfonds übertreffen das Biotechergebnis deutlich.
Chancenreich trotz spezieller Risiken
Mit ihrem Entwicklungsrisiko, den engen regulatorischen Rahmen und meist in die Zukunft verlagerten Renditezielen bleibt die Biotechnologie für traditionelle Investoren sehr gewöhnungsbedürftig. Den noch bietet dieser Geschäftsbereich in den nächsten Jahren vielversprechende Chancen, wenn auch mit speziellen Risiken. Der Sektor bringt konsequent innovative Technologien und Produkte hervor, die langfristig das Potenzial haben, über durchschnittlich hohe Renditen zu erzielen. Diese Innovationen betreffen auch die Nutzung von Daten und künstlicher Intelligenz oder Entwicklungen in der Nanobiotechnologie. All dies wird in der Zukunft die Entwicklung von disruptiven Lösungen beschleunigen, auch um eine Chancen-Risiko-Bewertung von Investitionen in die Biotechnologie zu optimieren.
„Boom made by Biotech“
Ein nicht so alter Spruch besagt: „selten ein Schaden ohne Nutzen“ – und dies lässt sich auf die Entwicklung der Biotechnologie während der Pandemie anwenden. Die Coronakrise hat in diesem Sektor einen Gründungs- und Skalierungshype als Reaktion auf die diagnostischen als auch therapeutischen Herausforderungen aus gelöst. Viele neue Unternehmen, besonders solche mit innovativen Plattformtechnologien, zeigen auch pandemiebereinigt weiterhin ein gutes Wachstum und ein stabiles Basisgeschäft. Somit sind auch und gerade in Zeiten der Krise die Chancen für innovative Gründungen gut, wenngleich ein nachhaltiger „Boom“ und Wachstum starkes Kapital erfordern. Junge und innovative Biotechunternehmen sind gerade in Zukunft das Rückgrat der Pharmaindustrie und entwickeln Lösungen für die Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft – wie die Klimakrise, sich vermehrt ausbreitende Infektionskrankheiten, eine zunehmende Überalterung der Gesellschaft, aber auch die mögliche Bedrohung durch Biowaffen im Rahmen globaler Konflikte. Krisen sind auch Innovationstreiber und Wachstumsbeschleuniger und die Biotechnologie wird in Zukunft ein wichtiger Pfeiler unseres Wirtschafts- und Industriestandorts sein.
Daher ist es manchmal erforderlich, den Kopf etwas zu wenden oder die Augen einen Moment zu schließen, um eine neue Perspektive zu erlangen und auch in einer Krise vielleicht mehr Licht als Schatten zu erkennen.
[1] https://www.vfa.de/
[2] BioM Report Biotech in Bavaria Report 2023/24
[3] EY Deutscher Biotechnologie-Report 2024
[4] Ebenda
[5] Beyond Borders: EY Biotechnology Report 2024 | EY – US
[6] BPI – Partner im Gesundheitswesen:Masterplan.Pharma
[7] Statistiken zur Biotechnologie | Statista
[8] Fonds, Analysen, Tools, News und mehr | CAPinside
Autor/Autorin
Prof. Dr. Ralf Huss
Prof. Dr. Ralf Huss ist seit 1. Januar 2023 Geschäftsführer der BioM Biotech Cluster Development GmbH. Der Pathologe verfügt über langjährige Erfahrung sowohl in der akademischen Forschung als auch in internationalen Pharmaunternehmen.