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Wie steht es um die Biotechnologie in Deutschland – generell und ganz speziell in Coronazeiten? In den Räumen des traditionsreichen Campus Berlin-Buch bat die Plattform Life Sciences zum alljährlichen Roundtable.
Plattform Life Sciences: Frau Dr. Quensel, wir befinden uns hier am Campus Berlin-Buch. Was zeichnet diesen Standort aus?
Quensel: Derzeit beherbergt der Biotechnologiepark auf dem Campus Berlin-Buch knapp 60 Biotechnologieunternehmen. Dazu kommen weitere Steuer- und Rechtsberater oder Patentanwälte als weitere sehr hilfreiche Klientel für die hiesigen Unternehmen. Ebenfalls an diesem Ort beheimatet ist die wissenschaftliche Forschung, mit Schwerpunkt Grundlagenforschung. Dazu zählen das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft und das Leibniz-Forschungsinstitut für Molekulare Pharmakologie. Zwischen diesen Institutionen und unseren Mietern bestehen nicht nur zahlreiche Kooperationen – viele der hier ansässigen Unternehmen sind Ausgründungen aus diesen Zentren. Die Charité betreibt auf dem Campus klinische Forschung und ist Teil der Brücke zwischen Forschung, Anwendung in der Klinik und Kommerzialisierung. Und nicht zuletzt sind wir immer noch ein Klinikstandort, mit einer Klinik des Helios-Konzerns sowie zwei Spezialkliniken. Damit wird eine langjährige Tradition fortgesetzt, denn Berlin-Buch war im vorigen Jahrhundert mit über 5.000 Betten die größte Krankenhausstadt Europas. Mit dem Kaiser-Wilhelm-Institut wurde gleichzeitig ein wichtiger Impuls in der Hirnforschung gesetzt. Und wir führen die Tradition der Lebenswissenschaften fort: Im August dieses Jahres fand der Spatenstich für unser neues Gründerzentrum BerlinBioCube statt, für das wir schon heute zahlreiche Anfragen haben.
Wie kann sich der Biotechstandort Berlin im innerdeutschen Wettbewerb der Biotechcluster behaupten? Kann Berlin mehr als „nur“ digital?
Bindseil: Natürlich kann Berlin mehr als digital. Zudem ist dieser Bereich noch relativ jung. Demgegenüber ist Berlin ein sehr traditioneller Standort für Lebenswissenschaften und Medizin. Berlin ist im innerdeutschen Wettbewerb der Standort, der die größte Breite anbieten kann. Jeweils in den Bereichen Pharma, Medizintechnik und Biotech gehört Berlin zu den Top-Three-Standorten in Deutschland; das gilt auch für den Gesamtbereich der Lebenswissenschaften in Kontinentaleuropa. Dazu ist Berlin Hauptstadt.
Lorenz: Ein wichtiger Punkt in der Ausgründung oder für Start-ups ist das Personal – und dafür ist Berlin ein guter Standort. Wir hatten in den letzten Jahren mehrere Ausschreibungen für Post-Doc-Stellen und haben für jede ausgeschriebene Stelle über 50 Bewerbungen bekommen, quasi aus der ganzen Welt. Ich bin mir nicht sicher, ob das in jeder anderen Stadt oder in der Provinz ebenso gegangen wäre.
Fischer: Vor allem bei den Personalkosten ist Berlin immer noch ein relativ günstiger Standort. Schaut man beispielsweise an die Ostküste der USA, muss man allein bei den Entwicklungs- und Personalkosten das Doppelte an Kosten einplanen. Auch das ist ein Standortvorteil für Berlin.
Seegers: Durch die große Vielfalt in Berlin konzentriert sich nicht alles auf einen einzelnen „Leuchtturm“ oder einen speziellen Investor. Doch egal, in welchen Report man schaut, Berlin steht immer unter den Top Three. Das ist ein Punkt, der in der Wahrnehmung oft verloren geht. Wenn man dann in die Tiefe geht, merkt man schnell, dass es etwa an der Charité nahezu immer einen international anerkannten Experten für ein bestimmtes Gebiet gibt und dass in fast jedem Branchensegment ein aufstrebendes Unternehmen am Standort Berlin existiert, welches national und international als innovativ wahrgenommen wird. Hier auf dem Campus hat z.B. die Eckert & Ziegler Strahlen- und Medizintechnik AG ihren Sitz, die seit Mai im TecDAX notiert. In anderen Regionen würde vielleicht jeden Tag nur über dieses eine Unternehmen geredet – hier gibt es dafür viel zu viele spannende Ansätze nebeneinander. Diese Vielfalt macht es mitunter schwierig, ein einzelnes Unternehmen oder Forschungsprojekt als „Leuchtturm“ in der öffentlichen Wahrnehmung herauszuheben.
Zudem verfügt Berlin auch europaweit gesehen über eine sehr starke Start-up-Szene.
Vlachou: In der Tat, und diese Szene lässt sich ja nicht auf die Life Sciences begrenzen. Das bezieht sich auf die Anzahl der Gründungen, die Anzahl der Finanzierungsrunden und die Finanzierungsvolumina. Entsprechende Statistiken werden zwar auf den ersten beiden Plätzen nicht durch die Life Sciences besetzt, und wenn man vom Start-up-Geschehen in Berlin spricht, dann denken viele zunächst an E-Commerce, Media oder IT/Software. Da gehen die Life Sciences vielleicht ein bisschen unter. Das verzerrt ein wenig das Bild.
Bindseil: Aber genau dieser Umstand kann uns für die Life Sciences Mut machen! Seit einigen Jahren werden über 60% des Wagniskapitals in Berlin in den von Ihnen genannten Segmenten ausgegeben. In dem Maß, in dem vielleicht das Segment „E-Commerce“ künftig nicht mehr so interessant für Investoren sein wird, schauen diese Investoren nach neuen Investitionsmöglichkeiten. Und was ist momentan attraktiver als Gesundheit?
Seegers: Bei Digital Health ist Berlin ganz klar die Nummer eins in Deutschland. Hier erleben wir die Verbindung von Gesundheit, Digitalisierung und einer lebendigen Investorenlandschaft.
Gottwald: Die Dynamik in der hiesigen Digital- und IT-Szene ist eine große Chance für Biotech und Pharma, weil wir immer mehr sehen, wie diese Segmente zusammenwachsen. Innovationen basieren zunehmend auf Daten. Wir brauchen den Zugang und eine intelligente Nutzung der Patientendaten – sowohl aus der Forschung als auch aus der alltäglichen Nutzung, etwa über Health-Apps. Wenn es uns gelingt, diese Bereiche sinnvoll zusammenzufügen, dann hat Berlin ein Potenzial, welches es so, abgesehen vielleicht von Boston, nirgendwo sonst gibt.
Bachmann: Das möchte ich bestätigen! Ich komme ursprünglich aus einer Start-up-Szene, die in Berlin stark von E-Commerce geprägt ist. Aber genau die Verknüpfung zwischen der klassischen Start-up-Szene in Berlin mit den Gesundheitsthemen, natürlich auch Digital Health, aber eben auch Life-Sciences-Themen, wächst immer mehr. Die Segmente sind jedoch noch nicht vollends zusammengekommen. Es gibt immer mehr Fonds, die sich für Gesundheitsthemen interessieren – und doch ist der Zugang zu den einzelnen Communitys aus den Life Sciences noch sehr schwierig.