Bildnachweis: GoingPublic Media.
Trotzdem besteht zuweilen der Eindruck, dass Berlin gerade im Bereich der medizinischen Biotechnologie noch immer etwas unterhalb des Radars läuft, verglichen mit anderen Standorten in Deutschland.
Bindseil: Das sind meiner Meinung nach aber noch die Geschichten von vor 20 Jahren, also zu Zeiten des BioRegio-Wettbewerbs. Damals sind in anderen Regionen Firmen wie MorphoSys oder Medigene gegründet worden. Das kann aber heute kein Maßstab mehr sein. Blicken wir auf die Breite und auf Innovationen, spielt das digitale Thema heute eine weitaus größere Rolle, ebenso wie Diagnostik, regenerative Medizin, ATMP oder Immuntherapeutika. Hier sind wir in Berlin gut positioniert – Berlin ist eben anders als andere Standorte nicht auf eine oder wenige Indikationen spezialisiert.
Quensel: Gleiches gilt für die Forschung. Berlin ist in Deutschland zwar nicht als Universitätshauptstadt bekannt; trotzdem sind hier deutschlandweit die meisten Studenten. Alle drei großen Universitäten forschen im Bereich der Lebenswissenschaften. Dazu kommt die Charité als größtes deutsches Universitätsklinikum.
Herr Dr. Gottwald, Sie verfügen über eine jahrzehntelange Erfahrung im Bereich der Wirkstoffforschung und -entwicklung hier in Berlin – heute bei der Bayer AG, früher bei Schering. Teilen Sie die Sichtweise Ihrer Vorredner?
Gottwald: Ja! Berlin ist in der Bayer AG die Zentrale von Pharmaceuticals und einer der wichtigsten Forschungs- und Entwicklungsstandorte weltweit mit über 2.000 Mitarbeitern mit dem Schwerpunkt in den Bereichen Onkologie und Frauengesundheit. Weiterhin betreiben wir einen Inkubator auf unserem Werksgelände. Über diesen CoLaborator haben wir im Laufe der Jahre einer Anzahl an Firmen Raum geboten, die nach Bedarf auch enger mit uns zusammenarbeiten und unsere Infrastruktur nutzen können. Wir sehen das als Ergänzung zu den Biotechparks in der Region. Als Unternehmen schätzen wir besonders das enorme Potenzial, welches auf dem Forschungssektor in der Region vorhanden ist. Wir müssen nur darauf achten, dass wir den Übergang von der sehr starken Forschung in die Innovation besser bewältigen, also die Translation hin zu konkreten Produkten, gemeinsam mit den vorhandenen Start-ups, aber auch mit den akademischen Einrichtungen. Hier müssen wir das Bewusstsein dafür stärken, was es z.B. bezüglich der Validierung von Ergebnissen erfordert, eine Idee zu einem Produkt weiterzuentwickeln, das den Patienten letztendlich nutzen kann. Hier können wir noch besser werden, gerade in der Ausbildung. Allerdings sind hier auch das Land und der Bund gefragt.
Derzeit hört man in den Medien Namen wie CureVac, BioNTech oder Immatics. Auch MorphoSys oder Medigene wurden hier schon genannt. Fehlt Berlin vielleicht ein vergleichbares Leuchtturmunternehmen?
Bindseil: Deutschland braucht generell gute Leuchtturmunternehmen. Gerade jetzt ist schön zu hören, dass auch deutsche Biotechs in der Wirkstoffentwicklung gegen COVID-19 ganz vorne mit dabei sind. Generell sehe ich aber keine Wichtigkeit in der Frage, ob ein Unternehmen aus Heidelberg, Martinsried oder Berlin kommt. Zwar gibt es in Berlin wenige Impfstoffentwickler, die gerade in der aktuellen Coronadebatte eine große Rolle spielen – doch finden sich in der Region viele Unternehmen, die als Kooperationspartner oder Dienstleister agieren. Andererseits gibt es Unternehmen aus der Wirkstoffentwicklung, etwa eine NOXXON Pharma, die natürlich mit den Herausforderungen einer klinischen Entwicklung kämpfen müssen und bei denen sich die Arbeit in einer Phase II oder III naturgemäß in die Länge zieht, bevor nennenswerte Ergebnisse verkündet werden können. Persönlich bin ich sehr froh, dass dem Thema Life Sciences bedingt durch die aktuelle Entwicklung plötzlich eine sehr hohe Aufmerksamkeit seitens der Politik widerfährt. Das wird der Branche insgesamt unglaublich guttun, denn die Wirkstoffentwicklung hatte es insgesamt in den vergangenen Jahren in Deutschland nicht leicht. Viele Unternehmen waren gezwungen, sehr früh auszulizenzieren, weil das Geld für die weitere Arbeit nicht ausreichte. Heute existiert auch bei den Finanziers ein viel größeres Interesse an den Life Sciences.
Quensel: Wir merken immer wieder in Projekten, die sich noch in der reinen Forschung befinden oder beim Max-Delbrück-Centrum angehängt sind, dass sich Pharmaindustrie, aber auch Investoren naturgemäß sehr zurückhalten, was den Einstieg bei den Biotechs in einer relativ frühen Phase der Entwicklung betrifft. Angesichts des hohen Finanzierungsbedarfs benötigt es einen langen Atem.
Herr Dr. Fischer, wie sehen Sie es als Unternehmer?
Fischer: Natürlich ist die Biotechnologie ein Wirtschaftszweig, der mit enorm hohen Entwicklungsrisiken verbunden ist, auf der anderen Seite aber auch mit sehr hohen Gewinnchancen. Ein Problem in der Wahrnehmung ist aus meiner Sicht aber, dass die erfolgreichen Projekte zumeist nach der Phase II von bekannteren, großen Firmen übernommen werden. Dort erfolgt dann die Phase-III-Entwicklung, und anschließend heißt es dann, „Konzern XY“ hat ein neues Medikament auf den Markt gebracht – schon ist es nicht mehr die Story eines erfolgreichen Start-ups aus Deutschland oder Europa, sondern die Story eines großen Pharmaunternehmens. Umgekehrt wird der erfolgreiche Weg eines Start-ups von der präklinischen Entwicklung bis in eine Phase II völlig unterschätzt, auch in der allgemeinen Wahrnehmung. Unser Unternehmen hat bis heute 40 Mio. EUR eingenommen. Das geht aber nur in Schritten, und dafür müssen wir immer wieder erfolgreiche Zwischenergebnisse vorlegen. Nur wird das etwa in der Presse gar nicht wahrgenommen.
Was sind denn aus Investoren- wie aus Unternehmersicht aktuell die großen Trends in der Biotechnologie?
Seegers: Die Biotechnologie zeichnet sich immer noch aus durch ihren großen Kapitalbedarf und breite Investorenkonsortien. Hier muss man international denken, um die Konsortien zusammenstellen zu können, oder große Corporates einbeziehen, um Finanzierungsrunden über 30 Mio. bis 50 Mio. EUR zu ermöglichen. Im europäischen Kontext hat sich in der letzten Zeit einiges getan und einige große Fonds wurden geraist. Spannend sind aber neben der Wirkstoffentwicklung auch andere Themen. Nehmen wir beispielsweise den Bereich künstliche Intelligenz: An der Charité existiert ein großer Schatz an Patientendaten, mit Ärzten und Medizinern an der Schnittstelle und IT-Fachleuten, die in der Lage sind, die notwendigen Algorithmen zu programmieren. Hier sehen wir momentan keine Finanzierungsproblematik. Da kommen internationale Fonds und sagen: „Das ist einzigartig, was Ihr hier am Standort habt!“ Zudem kommen viele Investoren in den Gesundheitsmarkt, die zuvor eher in die klassische IT investiert haben. Corona hat allen die Notwendigkeit der Digitalisierung im Gesundheitsmarkt noch einmal verstärkt vor Augen geführt – sei es in den Krankenhäusern selbst, in der Telemedizin oder in der Diagnostik.
Bachmann: Es geht auch um die Granularität des Risikos. Als Fonds mit einem Volumen von künftig rund 200 Mio. USD könnten wir eine Finanzierung über 40 Mio. USD niemals stemmen. Die Tatsache aber, dass wir unsere Anteile nach einer Phase-II-Studie verkaufen könnten, gibt uns die Möglichkeit, einen sinnvollen Exit zu machen und gleichzeitig neue Finanzierungen zu stemmen. Diese Granularität ist eine mindestens ebenso wichtige Frage wie das reine Fachverständnis.