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Digitalisierung ist das beherrschende Thema unserer Zeit: kaum eine Konferenz, kaum eine Fortbildung und kaum ein Strategiemeeting, in dem das Thema nicht adressiert wird. Viele Organisationen stehen heute vor der Herausforderung, mit den durch den technologischen Fortschritt ausgelösten massiven Veränderungen umzugehen. Die Digitalisierung, wie diese Weiterentwicklung gerne genannt wird, verändert althergebrachte Strukturen und Geschäftsmodelle. Von Tom Mühlmann
Auch in der Pharmaindustrie sind Unternehmen und Manager gefordert, sich intensiv mit dieser Herausforderung zu beschäftigen. Laut Monitoring-Report Wirtschaft DIGITAL 2018 des BMWi sind noch immer 21% der Chemie- und Pharmaunternehmen „weniger“ oder „überhaupt nicht“ zufrieden mit dem erreichten Digitalisierungsgrad (siehe Abb. 1) – der zweitschlechteste Wert unter den elf befragten Branchen. In der gleichen Untersuchung erreicht Chemie/Pharma gerade mal einen Indexwert von 50 Punkten (Maximum: 100) in puncto Digitalisierung.
Digitalisierung oder digitale Transformation?
Bevor die Auswirkungen näher erörtert werden, bedarf der Begriff „Digitalisierung“ einer genaueren Definition. Im eigentlichen Wortsinn bedeutet Digitalisierung ja die Umsetzung und Speicherung von Daten in elektronischer Form. Die Einführung von PCs, die Nutzung von Bürosoftware und ERP-Programmen war im ersten Schritt genau das. Vorher analoge Informationen waren nun digital verfügbar und abrufbar; eine Veränderung von Prozessen und Geschäftsmodellen ergab sich daraus nur in eingeschränktem Maß.
Durch die fortschreitende technologische Entwicklung wurden IT-Komponenten immer leistungsfähiger und dabei auch stetig kleiner. Gleichzeitig standen diese Informationen durch die Vernetzung in Form des Internets nun auch jederzeit jedem Computer zur Verfügung. Mit der Konvergenz der unterschiedlichen Technologien waren neue Geräte möglich, die den klassischen PC von seinem fixen Standort am Schreibtisch befreiten und die gesamte Leistung im Hosentaschenformat verfügbar machten. Mit diesem „iPhone-Moment“ begann 2007 die Transformation von tradierten Geschäftsmodellen. Erst durch die Innovation des Smartphones waren nun Anwendungen wie Facebook, Uber, Spotify und Airbnb für jedermann sinnvoll einsetzbar. Diese „digitale Transformation“, die auch vor nicht-digitalen Geschäftsmodellen keinen Halt macht, ist die eigentliche Herausforderung der heutigen Zeit.
Transformation auch bei nicht-digitalen Geschäftsmodellen
In der stark regulierten Pharmaindustrie ist diese Transformation nicht so einfach umzusetzen wie in anderen Branchen. Lange Entwicklungszyklen, voluminöse, risikoreiche Investitionen sowie ein unabdingbarer hoher Qualitätsanspruch bei Medikamenten setzen Grenzen in Bezug auf das schrittweise Entwickeln und Starten mit kleinen Testversionen. Doch der Veränderungsdruck – von internationalen Technologiegiganten wie auch von jungen, hoch motivierten Start-ups – zwingt auch die Pharmaindustrie zum Handeln. Google, Apple, Microsoft, Amazon und andere arbeiten bereits an eigenen „Health Solutions“. Auch wenn diese heute (noch) keine pharmazeutischen Produkte herstellen, so haben sie den Zugang zu Millionen von Patienten und Konsumenten, die ihre Gesundheitsdaten – teilweise bereitwillig, teilweise unbewusst – über Fitnesstracker, die in Apples iWatch integrierte EKG-Funktionalität oder einfach über Google-Suchanfragen diesen neuen Playern im Gesundheitswesen zur Verfügung stellen. Start-ups generieren über sensorengestützte Gesundheitsanwendungen ebenfalls massiv Daten, vom Blutdruck bis zu Harnwerten. Erlebter Nutzen wichtiger als Datenschutz
Das geht auch nicht immer konform mit der seit 2018 geltenden Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO). Hier und da finden sich wohl Unternehmen oder Lösungen, die in zumindest einem Graubereich unterwegs sind. Datenschutz ist wichtig und richtig – gerade im Gesundheitsbereich. Doch die Betroffenen sehen oft einen solch großen Nutzen für ihre Gesundheit oder in der Verbesserung ihrer Lebensqualität, dass sie ihre Daten trotzdem zur Verfügung stellen. Die DSGVO und andere Datenschutzgesetze hinken in der Auslegung noch der Realität hinterher. Trotz einer europäisch einheitlichen DSGVO haben wir in Deutschland u.a. noch immer 16 unterschiedliche Landes-sowie zahlreiche Krankenhaus-Datenschutzgesetze.
Viele Start-ups – auch in Deutschland – zeigen Möglichkeiten auf, Patienten trotz und im Rahmen von Datenschutz hilfreiche Gesundheitsanwendungen zu bieten. Anstatt die DSGVO als Datensammlungverhinderungsgesetz zu sehen, nutzen sie den Spielraum aus – und dabei werden wertvolle Daten für die Forschung zukünftiger und die Weiterentwicklung bestehender Anwendungen gesammelt.
Beginnen nun aber etablierte Pharmaunternehmen, im großen Stil Daten zu sammeln, so stößt dies oft auf Gegenwind bei anderen Mitspielern im Gesundheitswesen. Es wird der Pharmabranche gerne unterstellt, auf noch weitere Gewinnmaximierung abzuzielen. Daher sollte sie stets aufzeigen, wie die Versorgung mit neuen, kooperativen Modellen verbessert werden kann.
Mehr denn je: Daten als Treibstoff für zukünftige Entwicklungen
Pharmaunternehmen sollten sich nicht von diesen Herausforderungen abschrecken lassen. Kooperationen mit Start-ups sind ein Weg, die Energie sowie die unverbaute Sichtweise der „jungen Wilden“ mit dem Know-how und der Erfahrung etablierter Pharmaunternehmen zu verknüpfen. Hier ist es auch sinnvoll, über das eigene Betätigungsfeld hinauszudenken und die „Transformation“ nicht nur von „analog zu digital“, sondern ggf. auch in neue Betätigungsfelder als Gesundheitsdienstleister anzustoßen. So bietet z.B. digitale Therapieunterstützung, die von der pharmazeutischen Industrie entwickelt wird, über das bloße Arzneimitte hinaus individuelle Therapiekonzepte aus einem Guss, die Patienten und Ärzten den Alltag erleichtern können.
Eines steht heute schon fest: Nach der Digitalisierung und digitalen Transformation stehen wir nun am Anfang der dritten Phase des digitalen Zeitalters. Künstliche Intelligenz wird Forschung und Entwicklung, aber auch Kommunikation und Lernen grundlegend verändern. Wo bisher über Jahre mühsam Daten in isolierten Laborsituationen gesammelt wurden, können zukünftig auf Basis riesiger Datenmengen maschinell neue Erkenntnisse erzeugt werden – und das in nur einem Bruchteil der bisher dafür aufgewendeten Zeit.
Auch in der Kommunikation sowie der Fortbildung wird die kontinuierliche Erfassung und Auswertung von Daten helfen, schneller Muster zu erkennen: Welche Aussagen erzeugen schneller Nachfrage, welche Lernmodule helfen, die neuen Erkenntnisse rascher an den Patienten zu bringen, etc. Auch hier – wie auch in der Forschung und Entwicklung – führen diese Erkenntnisse zu Kosteneinsparungen und Effizienzgewinnen.
Nicht warten, sondern starten!
Daten sind das Rohöl des 21. Jahrhunderts. Daher sollte es für jedes Pharmaunternehmen eine Pflichtübung sein, eine explizite Datenstrategie als wichtigsten Teil der Digitalstrategie zu entwickeln. Die Identifikation von Handlungsfeldern, die Definition von Datengewinnungskonzepten, die Nutzung von international anerkannten Standards und das Festlegen von Key Performance Indicators (KPIs) sind wichtige Bestandteile davon – immer mit dem Fokus auf den Mehrwert für eine verbesserte Patientenversorgung. Dabei ist es unabdingbar, auch im 360-Grad-Rundumblick zu denken: von Forschung und Entwicklung über Logistik und Datenerfassung bei Ärzten bis hin zum Patienten.
Mit den aktuellen Regelungen laufen Politik und Staat – auch auf europäischer Ebene – der Realität leider hinterher. Doch gerade Pharmaunternehmen sollten sich nicht davon abschrecken lassen und heute schon eigene Strategien – im Rahmen der Regularien – für die Erfassung und Auswertung von Daten in den unterschiedlichsten Anwendungsszenarien entlang der gesamten Wertschöpfungskette umsetzen.
ZUM AUTOR
Tom Mühlmann studierte BWL sowie Wirtschaftsinformatik und baute seine Expertise für das digitale Zeitalter in internationalen Technologieunternehmen und Start-ups auf. Seit Juli 2019 verantwortet er das neue geschaffene Geschäftsfeld „Digitale Transformation“ beim Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie e.V. (BPI).
Autor/Autorin
Die Redaktion der Kapitalmarkt Plattform GoingPublic (Magazin, www.goingpublic.de, LinkedIn Kanal, Events) widmet sich seit Dezember 1997 den aktuellen Trends rund um die Finanzierung über die Börse. Ob Börsengang (GoingPublic) oder die vielfältigen Herausforderungen für börsennotierte Unternehmen (Being Public), präsentiert sich GoingPublic cross-medial als Kapitalmarktplattform für Emittenten und Investment Professionals.