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Das Ersehnen der Flut, die die deutsche Life-Sciences-Branche förmlich anhebt, gehört bei vielen der hiesigen Akteure seit langer Zeit zum Selbstverständnis. Dabei blickt man in der Regel auf bzw. über den Großen Teich in Richtung USA. Doch was muss passieren, dass dieses Warten nicht endlos ist und sich gar eine eigene Flut in der deutschen Life-Sciences-Branche entfesselt?
Plattform Life Sciences: Sie alle haben viele Jahre in den USA verbracht – und sind zurückgekehrt. Warum?
Prof. Dr. Latz: Wir wollten unsere Kinder in Europa aufziehen. Deutschland hat aber auch viele Vorteile gegenüber anderen Standorten. So sind beispielsweise die Unterstützung der Grundlagenforschung und die Gründungsunterstützungen des Staates sehr stark.
Prof. Dr. Seeberger: Das gilt auch für die Ausbildung. Hinzu kommt, dass Deutschland einzigartige Orte für Forschung aufweist. Die Grundlagenforschung ist herausragend und steht der in den USA in nichts nach; in Teilen ist sie sogar besser.
Prof. Dr. Meissner: Ausschlaggebend war das einzigartige Modell der Max-Planck-Gesellschaft, welches es erlaubt, ohne Einschränkungen den wissenschaftlichen Interessen zu folgen. Ich hätte die Harvard Universität und Cambridge für keine andere Stelle aufgegeben.
Die Grundlagenforschung in Deutschland ist herausragend und steht der in den USA in nichts nach; in Teilen ist sie sogar besser.
Eigentlich ideale Bedingungen …
Prof. Dr. Seeberger: Ja, aber die Ressourcen, die notwendig wären, die hiesigen Bedingungen noch zu verbessern, werden oft falsch eingesetzt: Viele Förderungen führen zu „Zombiefirmen“, die künstlich am Leben gehalten werden. Mit Privatgeld würde das niemals passieren.
Prof. Dr. Meissner: Wir haben prinzipiell auch gute Life-Sciences-Ökosysteme. Aber es müssten noch stärker Orte werden, wo wirklich alles „in der Nähe“ ist: genügend Talente, Gründungswillen, Institutionen etc. – und Personen, die nach der Universität in Start-ups Erfahrungen sammeln möchten, die Wechsel in ihrer Berufsvita als positiv ansehen. Und ganz banal gesagt: Venture Capitalisten wollen mit ihren Kunden Mittagessen gehen und sich dabei unkompliziert kennenlernen können. Ökosysteme, die dieses Potenzial hätten, haben wir.
Prof. Dr. Latz: Diese Ökosysteme müssten auch stärker Dynamik ermöglichen. Wer z.B. einen Mietvertrag vorab für drei Jahre unterschreiben muss, auch wenn die Unternehmensentwicklung noch nicht absehbar ist, wird ihn nicht unterschreiben.
Prof. Dr. Seeberger: Vor allem müsste die Körperschaftsteuer für Unternehmen in solchen Innovationsökosystemen gesenkt werden. Man könnte sie ortsgebunden gestalten, wie das im Rhein-Main-Gebiet bereits der Fall ist.
Was wäre noch nötig, damit in Deutschland ein leistungsfähigerer Kapitalmarkt für Life Sciences entstehen kann?
Prof. Dr. Latz: Investoren aus dem Ausland für Unternehmensgründungen in Deutschland zu gewinnen ist schwierig. In den USA ist der Zugang zum Kapital einfacher. Es bestehen langfristige Rechts- und Steuersicherheiten und jeder dort weiß, wie das Skalieren von Unternehmen funktioniert. So bleiben amerikanische Kapitalgeber lieber für einen „schlechten“ Deal in den USA, als für einen „besseren“ Deal nach Deutschland zu kommen. Während Deutschland Schwierigkeiten hat, seine regulatorischen und rechtlichen Rahmenbedingungen an die Bedürfnisse von Biotechunternehmen anzupassen, profitiert die Schweiz beispielsweise von einem unternehmensfreundlichen Umfeld und hat sich dadurch zu dem führenden und innovativsten Biotechstandort in Europa entwickelt.
Prof. Dr. Seeberger: Es ist durchaus möglich, Kapital für Life Sciences auch aus Deutschland oder Europa zu erhalten. Die interessanten, größeren Investitionen kommen dennoch aus den USA – aber das sind wenige. Die Ferne zwischen Unternehmen und Geldgebern spielt dabei eine Rolle. Viele deutsche Unternehmen sind daher Tochtergesellschaften von in den USA basierten Firmen, obwohl sie eigentlich eine deutsche GmbH sind. Letztlich gehören diese Unternehmen dann aber amerikanischen Unternehmen. Dadurch leidet die Wertschöpfung hierzulande.
Wir machen uns unnötig Konkurrenz. Um von ausländischen Investoren stärker wahrgenommen zu werden, braucht es ein paar wenige Biotechstandorte.
Prof. Dr. Eicke Latz
Diese Schwierigkeiten bestehen ja schon seit Langem. Ist bisher an den falschen Stellschrauben gedreht worden?
Prof. Dr. Meissner: Ja – bzw. wurde gar nicht an ihnen gedreht. So können beispielsweise bestehende Steuerklassen, wie sie für etablierte Unternehmen sinnvoll sein mögen, nicht auch auf junge Unternehmen angewendet werden. Etablierte Unternehmen verdienen Geld, während Start-ups zunächst Kapital verbrennen.
Prof. Dr. Latz: Wir machen uns auch unnötig Konkurrenz. Um von ausländischen Investoren stärker wahrgenommen zu werden, braucht es ein paar wenige Biotechstandorte. Die haben wir zwar, aber wenn jede größere Stadt meint, ihr eigenes Biotechcluster etablieren zu müssen, dann wird die hiesige Szene für Außenstehende unübersichtlich. In den USA gibt es auch nur ein paar Standorte und vor allem die großen, Boston und San Francisco. Alles, was Rang und Namen hat, trifft sich an diesen zwei Orten.
Prof. Dr. Seeberger: Die in Deutschland verfügbaren Talente verstreuen sich dadurch auf zu viele Orte. Darüber hinaus könnten es viel mehr sein, wenn sie nicht in ihren „Cozy Jobs“ verhaftet blieben. Problematisch ist auch, dass die fürs Gründen notwendige „Risiko-positiv-Haltung“ mit steuerlichen Verlusten einhergeht. Junge Leute können daher oftmals nicht gründen und Ältere, Erfahrene steigen zu früh aus, weil Anreize fehlen. Hinzu kommt ein Paygap im Vergleich zu den USA: Dort wird mehr verdient. Das liegt meines Erachtens an einer deutschen Neidleitkultur. Erfolgsstorys, die mit hohen Einkommen einhergehen, werden nicht wertgeschätzt. Dabei sind genau solche Storys wichtig, um Nachahmerinnen, Nachahmer anzuziehen.
Und darüber hinaus?
Prof. Dr. Latz: Geistige Eigentumsrechte sind oft unzureichend geschützt. Aber die Entwicklung von Fachkenntnissen in diesem Bereich verbessert sich langsam. In den USA können zudem Aktienoptionen zu niedrigen Preisen erworben und Steuern im Voraus bezahlt werden, was die damit einhergehenden Risiken vorhersehbar macht. Hier besteht jedoch die Gefahr, dass die Steuern für Aktien zu höheren Preisen als zum zukünftigen Wert bezahlt werden müssen. Das bedeutet, dass man ein hohes Investitionsrisiko eingeht, ohne sicher zu sein, wie sich die Dinge entwickeln werden.
Prof. Dr. Seeberger: Es muss ein Umdenken stattfinden. Viele sind der Ansicht, dass bei der Verwendung öffentlicher Gelder in öffentlichen Institutionen am Ende keine privaten Gewinne erzielt werden sollten. Dabei profitieren letztlich auch öffentliche Institutionen von den IPs dieser Unternehmen. Das Massachusetts Institute of Technology (MIT) erhielt nur 3% bis 5% der Unternehmensanteile, die dann jedoch stark an Wert gewinnen konnten. In Deutschland hingegen wird oft versucht, einen großen Teil von etwas Kleinem zu bekommen – und am Ende erhält man alles von nichts.
Prof. Dr. Meissner: Gibt es kein Patent, haben Biotech- oder Pharmainvestoren oft kein Interesse an der Idee. Das Anmelden von Patenten darf auch keine Ablenkung von der Zeit darstellen, die man im Labor verbringt.
Erfolge brauchen Visionen – und für die braucht es langfristiges Denken. Der Aufbau von Ökosystemen geht schließlich nicht über Nacht.
Prof. Dr. Alexander Meissner
Nochmals in Richtung Politik geblickt: Warum wird diese Kritik dort nicht gehört? Sendet die Life-Sciences-Branche falsche Signale?
Prof. Dr. Meissner: Nein, die Signale sind die richtigen, aber die Entscheidungsebenen in den Ministerien sind oft uneinheitlich. Es gibt auch zu viele Sachbearbeiter, die sich mit kleinteiligen Angelegenheiten befassen oder Positions- oder Strategiepapiere verfassen. Diese sind wichtig und notwendig, doch bleibt es oft bei diesen Papieren, ohne dass konkrete Maßnahmen folgen.
Prof. Dr. Latz: Probleme werden erkannt, aber nicht gelöst, insbesondere wenn die Lösungen über die jeweilige Legislaturperiode hinausgehen. Man konzentriert sich oft nur darauf, Innovationen anzustoßen, von denen dann andere profitieren.
Prof. Dr. Meissner: Die Kommunikation „unsererseits“ in Richtung Politik ist ja vorhanden und viele Lobbyarbeiter machen einen guten Job – und es ist ja nicht so, dass unsere Kommunikation nicht konkret oder zielgerichtet wäre. Aber man braucht auch ein entsprechendes Gegenüber. Gleichzeitig müssen wir diese aber auch mehr an die Realität heranführen, ihnen zeigen, was wir tun und was wir brauchen. Das Gute ist: Wir müssen dabei nicht bei null anfangen – und es gibt eine Menge Erfahrung darüber, was woanders funktioniert.
Prof. Dr. Seeberger: Die Probleme, für die die Politik zuständig ist, muss sie aber selbst lösen. Wir können nur woanders hingehen, wenn das nicht passiert.
Fehlt es an genügend guten Storys bei der Kommunikation der Anliegen?
Prof. Dr. Latz: Nein – die gibt es und die kommunizieren wir auch. Aber die Storys befeuern hier leider nur einen Bottom-up-Approach, also die Ausbildung, das Consulting, den Aufbau von Netzwerken oder das Zusammenbringen von Start-ups mit Venture Capitalisten. Wir sollten auch in einem Top-down-Approach die Industrie befeuern, z.B. Investorenkonferenzen an Orten, wo Translation möglich ist, durchführen, damit die nötigen Finanzmittel nach Deutschland kommen.
Prof. Dr. Seeberger: Alle wollen nur Erfolgsstorys, aber wir brauchen auch ein stärkeres Bewusstsein dafür, dass es eben auch Fehlschlagstorys gibt – dass man Fehlschläge aushalten muss. Unerfahrene Manager machen Fehler, das gehört dazu. Aber diese Unerfahrenheit gilt es, durch ein Netzwerk von Erfahrenen auszugleichen. Und damit meine ich nicht den Wissenschaftsbereich, sondern den Businessbereich.
In unserem Gespräch wurde oft Deutschland mit den USA verglichen. Fällt Ihnen daher ein englischer oder deutscher Spruch ein, der umreißt, was Deutschland von den USA lernen könnte?
Prof. Dr. Meissner: Erfolge brauchen Visionen – und für die braucht es langfristiges Denken. Der Aufbau von Ökosystemen geht schließlich nicht über Nacht.
Prof. Dr. Latz: You get what you paid vor. Wir müssen stärker in Life-Sciences-Unternehmen investieren, direkt und indirekt. Ein Investment in Qualität zahlt sich aus.
Prof. Dr. Seeberger: Eine Flut hebt alle Boote. Profitiert einer, profitieren alle. Das geht nur ohne Neid. Und für die Flut der besseren Unterstützung von Life-Sciences-Unternehmen können wir gemeinsam selbst sorgen.
Meine Herren, haben Sie herzlichen Dank für das Gespräch.
Den Roundtable moderierte Urs Moesenfechtel.
Zu den Teilnehmern:
Prof. Dr. Dr. h.c. Peter H. Seeberger ist Direktor am Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung, Professor an der Freien Universität Berlin,
Vizepräsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und Gründungsdirektor des Großforschungszentrums CTC. Er studierte u.a. an der University of Colorado und war Assistant und später Firmenich Associate Professor of Chemistry am MIT. Ebenso war er Professor für Organische Chemie an der ETH Zürich und Affiliate Professor am Sanford-Burnham Institute in Kalifornien. Aus den Arbeiten seines Labors sind mehrere Biotechunternehmen in Deutschland, der Schweiz und den USA hervorgegangen.
Prof. Dr. Eicke Latz ist Professor für Experimentelle Rheumatologie an der Charité und Wissenschaftlicher Direktor des Deutschen Rheuma-Forschungszentrums – DRFZ sowie Professor für Innate Immunität an der UMass Medical School und der Universität Bonn. Er gründete Biotechunternehmen wie IFM-, Odyssey- oder Beren Therapeutics in Boston und Los Angeles.
Prof. Dr. Alexander Meissner ist Direktor des Max-Planck-Instituts für Molekulare Genetik und Mitglied der Max-Planck-Gesellschaft. Zuvor war er Professor an der Harvard Universität und Mitglied am Broad Institute von Harvard und MIT. Er ist Mitbegründer der Firma Harbinger Health (USA) und Teil des SABs von Zymo Research (USA).
Dieser Artikel ist in der Plattform Life-Sciences-Ausgabe 1-2024 erschienen.
Autor/Autorin
Urs Moesenfechtel, M.A., ist seit 2021 Redaktionsleiter der GoingPublic Media AG - Plattform Life Sciences und für die Themenfelder Biotechnologie und Bioökonomie zuständig. Zuvor war er u.a. als Wissenschaftsredakteur für mehrere Forschungseinrichtungen tätig.