Plattform Life Sciences: Herr Schuster, der ITM-Claim lautet „Passion for Precision“. Was bedeutet er Ihnen?
Schuster: In meinem früheren Berufsleben durfte ich mich mit vielen spannenden Dingen im Venture-Capital-Bereich beschäftigen – Software, Hardware, Semiconductors … Bis mir jemand etwas zeigte und sagte: „Schau mal, was die da in München machen: linkes Bild: 42 Metastasen, rechtes Bild: alle Metastasen weg. Keine Chemo- und keine Immuntherapie, das ist was völlig anderes – zielgerichtete Radionuklidtherapie!“ Alles, was ich bis dahin beruflich gemacht hatte, erschien mir da weniger relevant. So bin ich 2011 zu ITM gekommen und arbeite seither mit Leidenschaft daran, dass Krebspatienten besser und länger leben können.
Unser Therapieprinzip basiert auf einem Targeting-Molekül, das mit einem Radionuklid gekoppelt wird und als Radiopharmazeutikum zielgerichtet einzelne Tumorzellen adressieren kann. Damit erreichen wir eine sehr präzise Tumorbehandlung. Die Herstellung dieser zielgerichteten Therapie ist hier allerdings nicht marginal. Es müssen dabei zwei sich widersprechende Ansätze miteinander „verheiratet“ werden: die Richtlinien für die GMP-Produktion der „Pharmawelt“, bei der man mit Unterdruck arbeitet, und die Gegebenheiten der „Strahlenschutzwelt“. Bei der Herstellung von medizinischen Radionukliden wird nämlich Überdruck benötigt. Das widerspricht sich natürlich auf den ersten Blick. Um diese beide Welten miteinander verbinden zu können, bedarf es äußerster Präzision. Das ist auch Teil meiner Arbeit – mit Präzision daran zu arbeiten, das richtige Umfeld dafür zu schaffen.
Kann denn mit den von ITM entwickelten Radionuklidtherapien eine vollständige Remission erreicht werden?
Unser Anspruch ist, Patientinnen und Patienten vollständig zu heilen, und einige Beispiele zeigen bereits, dass das möglich ist. Aber wir können kein Heilsversprechen abgeben. In den allermeisten Fällen kommt der Krebs irgendwann wieder. Eine Therapie mit einem zielgerichteten Radiopharmazeutikum, z.B. auf Basis des Radionuklids Lutetium-177, lässt sich aber auch häufiger wiederholen. Ob sich die Heilungschancen mit zukünftigen Therapien, die z.B. auf dem energiereicheren Alphastrahler Actinium-225 basieren, noch weiter erhöhen lassen, ist noch Spekulation.
Vor wenigen Monaten eröffnete ITM die weltweit größte Anlage zur Produktion von Lutetium-177. Ein Gramm des radioaktiven Isotops wird dort nun pro Jahr hergestellt. Wie viele Patienten können mit diesem Gramm versorgt werden?
Mehrere Hunderttausend Patientinnen und Patienten weltweit pro Jahr, je nach Erkrankungsphase und konkreter Therapieform. Mit unserem neuen Werk wollen wir die Lutetium-177-Mengen stetig erhöhen, sodass wir zukünftig Patientendosen im Millionenbereich bereitstellen können. Bereits jetzt sind mehrere Therapieansätze auf dem Markt verfügbar, die auf Radionukliden basieren. Weitere kommen derzeit hinzu, beispielsweise im Bereich der Prostatabehandlung. Daher gehen wir auch von einem zukünftigen immensen Wachstumsmarkt aus. Laut Prognosen wird der weltweite Onkologiemarkt von 286 Mrd. USD im Jahr 2021 auf etwa 600 Mrd. USD im Jahr 2031 anwachsen und der Anteil von Radiotherapeutika daran bis zum Jahr 2031 um das Zwanzigfache ansteigen und etwa 25 Mrd. USD ausmachen. Dieser prognostizierte Anstieg wird vor allem darauf zurückgeführt, dass wir unsere Kapazitäten zur Herstellung von Lutetium-177 ausbauen. Das bedeutet: Wir besitzen die zentrale Industrieposition, die dieses Wachstum überhaupt erst ermöglicht. Wir sind Teil einer Entwicklung, die wir maßgeblich selbst befördern und die zu diesen positiven Steigerungen führen wird. Zudem entwickeln wir neue Targeting-Moleküle, erforschen neue Zielstrukturen und bringen dadurch neue Medikamente auf den Markt. Wir haben mehrere vielversprechende Kandidaten in der Pipeline, die beispielsweise gegen Glioblastome oder Prostatakrebs eingesetzt werden sollen, und wir können neben Lutetium auch Actinium und weitere Radionuklide einsetzen, je nach Indikation. Das Thema Radiopharmazeutika erfreut sich einer enormen Aufmerksamkeit; es herrscht ein regelrechter Hype um diesen Markt. Dabei steht dieser Markt erst am Anfang.
Den Sie nun über das neue ITM-Werk in Neufahrn bedienen. Welche Bedeutung hat der Standort Deutschland für Ihr Unternehmen?
Der Standort Deutschland hat eine immense Bedeutung für uns als pharmazeutisches Biotechunternehmen und die Medikamentenherstellung. Insbesondere im Bereich der Radiopharmazeutika nimmt Deutschland weltweit eine Spitzenposition ein. Es stammt z.B. ein PSMA-Molekül vom Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg. Wir verfügen hier in Deutschland über zahlreiche Pioniere und Experten in der Nuklearmedizin. Deutschland ist unser vorrangiger Standort und wird es daher auch in den kommenden Jahrzehnten bleiben.
Dennoch hat ITM erst kürzlich ein Headquarter in Princeton eröffnet und ein Lieferabkommen mit POINT Biopharma Global abgeschlossen. Ist Neufahrn nur ein Modell für künftige, umfangreichere Vorhaben Ihres Unternehmens, die dann jedoch nicht mehr am Standort Deutschland realisiert werden?
Wir schließen zusätzliche Produktionskapazitäten im Ausland nicht aus – schließlich kommt es beim Versenden von Lutetium-177 aufgrund seiner kurzen Halbwertzeit stets zu Aktivitätsverlusten, und unser Hauptanliegen ist ja, unsere Medikamente direkt und schnell zu den Patientinnen und Patienten zu bringen. Daher werden wir zukünftig auch in den USA eine zusätzliche Produktionsstätte etablieren. Wir setzen grundsätzlich auf die Erweiterung unserer Kapazitäten. Gegenwärtig antworten wir jedoch auf die wachsende Nachfrage mit dem Standort in Neufahrn. Unsere dortigen Produktionskapazitäten und unser globales Logistiknetzwerk ermöglichen es uns, den von uns prognostizierten weltweiten Bedarf an Lutetium-177 zumindest für die kommenden Jahre zu decken. Die Eröffnung unseres Standorts in Princeton vereinfacht unseren Zugang zum Markt in den USA, der unser wichtigster Einzelmarkt ist. Um unsere Medikamente in den Markt zu bringen, bauen wir dort gerade die Funktionen Sales, Market Access und Medical Affairs auf.
Planen Sie für Ihre weitere Unternehmensentwicklung eine weitere Kapitalerhöhung, z.B. durch einen Börsengang?
Dank der starken und erfahrenen Investoren, die bei uns bereits an Bord sind, verfügen wir über solide finanzielle Mittel für die kommenden Jahre. Private Equity erleichtert uns das Geschäftsleben wesentlich – im Vergleich zu den Verpflichtungen, die mit einem Listing verbunden sind. Wir sind also nicht zu einem IPO gezwungen, könnten es aber durchaus umsetzen. Das ist eine recht luxuriöse Situation.
Welche Entwicklungen stehen bei ITM an?
Unsere Radioisotopenplattform haben wir durch Lutetium, Gallium, Terbium, Actinium und weitere laufende Projekte bereits gut etabliert. Unsere Medikamentenentwicklung ist in vollem Gange und unsere umfangreiche und vielseitige Pipeline wird kontinuierlich ausgebaut. Unser Fokus liegt darauf, Projekte effizient umzusetzen, Innovationen voranzutreiben und neue Targeting-Moleküle mit diesen Radioisotopen zu entwickeln und auf den Markt zu bringen. Wir streben an, auch weiterhin auf dem Gebiet der Radiopharmazeutika eine führende Position einzunehmen.
Herr Schuster, herzlichen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Urs Moesenfechtel.
Zum INTERVIEWPARTNER
Steffen Schuster ist seit Dezember 2011 Chief Executive Officer der ITM Isotope Technologies Munich SE. Während seiner Zeit bei ITM hat er die Entwicklung und Produktion von medizinischen Radioisotopen und Radiopharmazeutika international stark ausgebaut und ITM erfolgreich von einem reinen Radioisotopenhersteller zu einem globalen Biotechnologie- und Radiopharmazieunternehmen geführt. Vor seiner Tätigkeit bei ITM war Schuster als General Partner bei TVM Capital sowie als Finanzvorstand der börsennotierten cycos AG tätig.
Autor/Autorin
Urs Moesenfechtel
Urs Moesenfechtel, M.A., ist seit 2021 Redaktionsleiter der GoingPublic Media AG - Plattform Life Sciences und für die Themenfelder Biotechnologie und Bioökonomie zuständig. Zuvor war er u.a. Wissenschaftsredakteur für mehrere Forschungseinrichtungen tätig.