Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) hat ein enormes Potenzial für die Forschung und Entwicklung neuer Arzneimittel und könnte im Life-Sciences-Sektor weltweit für einen zusätzlichen Innovations-Schub sorgen. Zusammen mit anderen VC-Investoren, Biotech-Entwicklern und (Health)Tech-Unternehmern haben wir jüngst das Branchentreffen BIO-Europe in Stockholm genutzt, um uns industrieweit über den aktuellen Stand der Entwicklungen und die künftigen Perspektiven auszutauschen. Von Dr. Hubert Birner, Managing Partner bei TVM Capital Life Science

Risikominimierung durch „Fail Fast“

Für Kapitalgeber in der risikobehafteten Biotech-Branche ist klar: Für jeden Erfolg in der Arzneimittelentwicklung muss man auch eine Vielzahl von Rückschlägen hinnehmen. KI allein wird diese Realität nicht ändern. Für Experten, wie Stephan Brock, Chief Technology Officer des Unternehmens Molecular Health in Heidelberg, das KI-gesteuerte Analysesoftware zur Verbesserung der klinischen Entscheidungsfindung entwickelt, könnte KI jedoch die Erfolgswahrscheinlichkeit in allen Phasen der Entwicklung signifikant steigern. Sie erkennt das Potential für Misserfolg schneller und spart somit wertvolle Zeit und Kosten. „Frühzeitig Scheitern“ bringt also gleichzeitig erfolgreiche Innovationen voran.

Erfolgreiche Anwendungsfälle zeigen, was möglich ist

Die Zahl der Anwendungsfälle von KI in der Arzneimittelforschung und -entwicklung nimmt rapide zu und der Einsatz von KI ermöglicht völlig neue Arbeitsweisen. Während laut EY Biotechnology Report 2024 vor zehn Jahren circa 60 Wirkstoffkandidaten mithilfe von Künstlicher Intelligenz entwickelt wurden, sind es heute jährlich 490.

Insilico Medicine, mit Sitz in Boston, das während des gesamten Arzneimittelforschungs- und -Entwicklungsprozesses generative KI einsetzt, hat damit das Hochdurchsatz-Screening transformiert, erzählte Chief Business Officer Michelle Chen. Anstatt eine Bibliothek von 10.000 Verbindungen aufzubauen und zu screenen, wurden 80 „synthetische Nadeln“ erzeugt – Verbindungen, die von der KI als biologisch aktiv vorhergesagt werden und als Ausgangspunkt für ein gezielteres Screening dienen. Dies führt zu einem effizienteren und schnelleren Prozess bei der Identifizierung präklinischer Kandidaten. Für Michelle Chen besteht jedoch die Gefahr der Über-Interpretation positiver Daten. Um die KI richtig zu trainieren, benötigt man noch eine große Anzahl negativer Daten, sagt sie.

Maria Luisa Pineda, Mitgründerin und CEO von Envisagenics, das eine KI-Software zur Analyse großer Mengen von RNA-Sequenzdaten entwickelt hat, berichtet, dass ihr Unternehmen und seine wissenschaftlichen Gründer bereits seit zwei Jahrzehnten KI zur Erkennung von Biomarkern einsetzen. Die entwickelte KI-Software ermöglicht es, Biomarker zu identifizieren, Patienten für klinische Studien zu stratifizieren und neue Targets für Antisense-Medikamente sowie neue Epitope zu erkennen, die durch alternatives RNA-Spleißen entstehen. Solche Epitope könnten beispielsweise mit Immuntherapien behandelt werden.

Ein weiteres Beispiel dafür, was die Technologie bereits leisten kann, gab das führende Unternehmen im Bereich des KI-basierten Wirkstoffdesigns, Exscientia, mit Sitz in Oxford. Es hat laut Nikolaus Krall, Executive Vice President für Precision Medicine, drei Moleküle in die klinische Phase gebracht und seine Pipeline etwa fünfmal schneller und zehnmal kostengünstiger aufgebaut, als dies mit herkömmlichen Ansätzen der Fall wäre. Dem Unternehmen steht nun die Fusion mit dem TechBio-Unternehmen Recursion Pharmaceuticals aus Salt Lake City bevor, wodurch laut Nikolaus Krall zwei sich hervorragend ergänzende KI-Plattformen zusammengeführt werden.

Künstliche und/oder menschliche Intelligenz?

Bei einem sind sich die meisten Experten jedoch einig: ein Selbstläufer ist die KI nicht. Stephan Brock erinnert sich daran, dass das Molecular Health Team der Gewinner eines Wettbewerbs zur Vorhersage klinischer Studien war. Es hatte ein KI-Tool entwickelt, das eine Genauigkeitsrate von über 80 % aufwies. Allerdings hat sich kein Pharmaunternehmen dafür interessiert, da es sich um eine Black-Box-Lösung handelte. Man konnte nicht sagen, was die Ursache für das Scheitern einer bestimmten Studie war.

Und auch Hartmut Juhl, CEO und Gründer des Hamburger Unternehmens für Präzisionsonkologie Individumed Therapeutics, gab zu bedenken, dass die Interpretation komplexer biologischer Daten weiterhin auf menschliche statt auf maschinelle Intelligenz angewiesen bleibt.

Aus der Sicht von TVM steht die Nutzung von KI für die Arzneimittelforschung noch weit am Anfang der potentiellen Möglichkeiten. Wir sehen in der Tat erste Anzeichen dafür, dass KI die Arzneimittelforschung über alle Entwicklungsphasen hin effizienter und schneller machen könnte; die Datenlage zum Impact der KI  gerade in der Phase 2 und später ist aber derzeit noch sehr begrenzt. Wir werden das Feld weiter sehr intensiv verfolgen, da hier große Potentiale zur Verbesserung unserer Renditen liegen können.

Autor/Autorin

Dr. Hubert Birner
Dr. Hubert Birner
Managing Partner at TVM Capital Life Science | Website

Dr. Hubert Birner ist Managing Partner bei TVM Capital Life Science. Er verfügt über 25 Jahre VC-Erfahrung und ist verantwortlich für die Investitionsstrategie und das weltweite Fondsgeschäft von TVM.