Liefe alles wie geplant, wäre der Europäische Gesundheitsdatenraum spätestens 2025 einsatzbereit. Digitale Gesundheitsdaten könnten dann von unterschiedlichsten Gruppen und Einzelpersonen sicher und EU-weit genutzt werden. Doch plagen das Projekt noch vielerlei ungelöste Herausforderungen, nicht zuletzt fehlende Bekanntheit und entsprechend kaum verfügbare Gesundheitsdaten von Bürgerinnen und Bürgern. Von Dr. Claudia Englbrecht

Der Europäische Gesundheitsdaten­raum (European Health Data Space; EHDS) soll die Speicherung und den Austausch von Gesundheitsdaten in der EU regeln. Ein Entwurf der Verordnung hat die EU-Kommission Anfang Mai 2022 erstmals vorgelegt. Nach einer Stakeholder-Konsultation liegt der Entwurf nun bei EU-Parlament und Ministerrat, die beide dem Entwurf zustimmen müssen. Bei planmäßigem Ablauf soll der EHDS 2025 einsatzbereit sein. Dann, so die Idee, könnten digitale Gesundheitsdaten sicher und EU-weit von Patientinnen und Patienten, Gesundheitsdienstleistern und Forschenden genutzt werden.

Hehre Absichten und Realität gemeinsamer Datennutzung

Der EHDS soll primär den Zugriff von ­Patientinnen und Patienten auf ihre eigenen Daten und deren Nutzung durch das Gesundheitspersonal beschleunigen und verbessern. So sollen die Gesundheits­versorgung und die Forschung und ­Entwicklung von Diagnostika und Therapeutika sowohl in Deutschland als auch im EU-Ausland deutlich optimiert werden. In diesem Sinne wurde in Deutschland ­bereits die elektronische Patientenakte (ePA) auf den Weg gebracht, die sich in den EHDS einpassen soll. Doch die ePA ist bislang u.a. daran scheitert, dass sie von Bürgerinnen und Bürgern kaum genutzt wird. Auch die Digitalisierung in Arzt­praxen und Krankenhäusern lässt zu ­wünschen übrig.

Illustration. Copyright: Inna - stock.adobe.com
Illustration. Copyright: Inna – stock.adobe.com

Ein weiteres Ziel des EHDS besteht ­darin, die sogenannte sekundäre Nutzung der Gesundheitsdaten durch Forscher­innen und Forscher aus öffentlichen und privaten Einrichtungen und Unternehmen zu ermöglichen. Mit dem erwarteten ­Datenschatz sollen Therapieentwicklungen und Therapieangebote vorangetrieben werden. Bei der sekundären Nutzung steht die Verbesserung des Gemeinwohls im Zentrum. Hier kommt auch der Begriff „Datensolidarität“ ins Spiel, das Teilen von Daten als zentrales Ziel des Gesundheitswesens. Da in Deutschland die forschende Industrie bei der Nutzung ­solcher Versorgungsdaten bisher außen ­vor ist, könnte der EHDS für die Pharma- und ­Biotechnologieindustrie also zu wesent­lichen Verbesserungen beim Datenzugang führen. Doch auch dieses Projekt stockt.

EHDS? Wer? Was? Daten?

Aktuelle Umfragen deuten an, dass ein großes Problem der Einführung eines EHDS seine mangelnde Bekanntheit sein könnte. Ergebnisse aus einer Umfrage von Civey, die bei der Veranstaltung „Fachforum Gesundheit“ der Berliner Tageszeitung „Tagesspiegel“ zum Thema EHDS und seltene Erkrankungen Ende Februar in Berlin präsentiert wurden, zeigen deutlich, dass der EHDS kaum bekannt ist. 45 % der Erwerbstätigen im Gesundheitswesen, 67 % der Erwerbstätigen in der pharmazeutisch-chemischen Industrie und immerhin nur 29 % der Ärzte gaben an, den EHDS nicht zu kennen. Eine ähnlich große Fraktion dieser Erwerbstätigen konnte keinen Nutzen des EHDS für seltene Erkrankungen nennen. Das bedeutet ebenfalls, dass wenig oder kein Wissen über dieses europäische Projekt besteht.

Rund 64 % aller Befragten (ab 16 Jahren) gaben zwar an, ihre Gesundheitsdaten anonymisiert unter Wahrung datenschutzrechtlicher Vorgaben der Gesundheitsforschung zur Verfügung stellen zu wollen, doch 43 % waren auch der Meinung, dass der Datenschutz in Deutschland verschärft werden müsse. Nur 28 % wollten diesen lockern. Diese Zahlen offenbaren einen Teufelskreis beim Datenschutz. Er wird gewünscht, aber auch als Hindernis wahrgenommen. Sowohl die geringe Bekanntheit des EHDS als auch das noch bei vielem vorhandenen Misstrauen bzgl. der Sicherheit der eigenen Daten stehen neben technischen und rechtlichen Hürden dem zügigen Start des EHDS ­daher auch im Weg. Der aktuelle Mustertext für die Patienteneinwilligung der Medizin­infor­matik-Initiative (MI-I) zur Nutzung ­ihrer Daten umfasst zwölf Seiten. Aus rechtlicher Sicht möglicherweise gerechtfertigt – um Bürgerinnen und Bürger zu animieren, ihre Daten zu spenden, wohl eher nicht.

Weitere offene Baustellen

Damit der Europäische Gesundheits­datenraum ein Erfolg werden kann, müssten verschiedene Voraussetzungen erfüllt sein. Möglichst viele Bürgerinnen und Bürger müssten ihre Gesundheitsdaten ­digital speichern lassen und zur Nutzung durch Dritte freigeben. Freigabe und ­Zugriff durch Dritte müssen rechtssicher geregelt sein. Die Speicherung der Daten müsste standardisiert sein und die Interoperabilität, also der technische Austausch von Daten über Bundesländer und Ländergrenzen sowie Institutionen, gewährleistet werden. Außerdem müsste der Zugang zu den Daten so geregelt sein, dass auch die forschende Industrie relativ unkompliziert deren Nutzung beantragen kann.

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Aus rechtlicher Sicht ist der EHDS eine Herausforderung, da er eine Reihe anderer Gesetze berührt. Zu nennen ist hier z.B. die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO), die in Deutschland oft weit ­enger ausgelegt wird als in anderen EU-Ländern. Zudem sind die Datenschützer der Bundesländer nicht immer gleicher Ansicht, wie der Datenschutz zu hand­haben ist. Um die Nutzung von Gesundheitsdaten in Deutschland zu beschleunigen, bereitet die Ampel aktuell das ­Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG) vor, welches die nationalen Rahmenbedingungen so gestalten soll, dass die Verordnung über den EHDS in Deutschland auch umgesetzt werden kann.

Eine große, noch nicht gelöste Aufgabe für die Implementierung des EHDS ist
das Speichern und Teilen der Daten. Wie muss eine stabile und leistungsstarke ­Versorgungsinfrastruktur gestaltet werden? In Deutschland arbeiten daran u.a. die MI-I und die Digitalen Fortschrittshubs, die mit rund 500 Mio. EUR von Bundes­forschungsministerium gefördert werden. In der MI-I haben sich beteiligte Konsortien auf einen gemeinsamen Kerndatensatz, ­beruhend auf internationalen Standards, festgelegt. Auch ein europäisches Pilotprojekt ist am Start, an dem sich 16 Partner aus zehn Ländern unter französischer Leitung beteiligen. Hierbei soll erprobt werden, wie unterschiedliche Datenplattformen aus verschiedenen Ländern über nationale Knotenpunkte verbunden werden können.

Bedeutung für die forschende Gesundheitsindustrie

Es gibt also Bewegung bei der rechts­sicheren Gestaltung eines Europäischen Gesundheitsdatenraums, aber eben auch noch einige ungelöste Herausforderungen. Dass der EHDS ausgesprochen wichtig ist, um Versorgungsqualität und Therapie­angebote zu verbessern, ist weitgehend unbestritten. Aus Sicht der forschenden Biotechnologieindustrie ist ein funktionierender EHDS unbedingt erforderlich, um die vorhandenen Daten zum Wohl der ­Patientinnen und Patienten nutzen zu können. Der EHDS ist ein vielversprechendes Projekt, das den notwendigen Fortschritt in der Gesundheitsversorgung und -forschung in Deutschland und der EU bringen kann.

Zahlreiche noch bestehende Herausforderungen müssen neben dem Gesetz­gebungsverfahren allerdings noch bewältigt werden, um das Projekt zu verwirk­lichen. Es wäre für den europäischen ­Forschungsstandort schädlich, wenn sich die Implementierung dieses Datenraums hinzieht oder in der Praxis scheitert – denn hier wie auch bei anderen Regulierungen, etwa der EU-Gentechnik-Direktive oder Novel-Food-Zulassungen, sind ­andere Länder schon deutlich weiter und machen sich so attraktiv für innovative Unternehmen.

Dieser Artikel ist in der Plattform Life Sciences-Ausgabe „Smarte Medizin“ 1/2023 erschienen, die Sie hier als E-Magazin abrufen können.

Autor/Autorin

Dr. Claudia Englbrecht
Pressesprecherin & Managerin Öffentlichkeitsarbeit at BIO Deutschland e. V. | Website

Dr. Claudia Englbrechtist Biologin und beiBIO Deutschland e.V.für den BereichÖffentlichkeitsarbeit und Kommunikation, den Technologietransfer und die Deutschen Biotechnologietage verantwortlich.