Gerade in großen Konzernen mit vielen Standorten in aller Welt gilt es, weitverzweigte Forschungs- und Entwicklungsarbeiten miteinander zu koordinieren. Auch kulturelle Unterschiede spielen eine Rolle. Mitunter werden spezielle Arbeiten an bestimmten Standorten konzentriert.

Plattform Life Sciences: Herr Dr. Bongs, Herr Dr. Decker, bewerkstelligt ein global agierendes Unternehmen wie Sanofi an jedem Standort eigentlich das komplette Spektrum der eigenen Forschung und Entwicklung oder sind die einzelnen Standorte fokussiert?

Bongs: Tatsächlich haben wir uns in letzter Zeit fokussiert und eine Anpassung vorgenommen. Projektspezifische Entwicklungen laufen an allen dreien unserer Zellkultur-Standorte in Boston, Paris und Frankfurt. Projektübergreifende Themenfelder, die sich auf Innovation und Technologie konzentrieren, sind standortspezifisch vergeben. Wir haben zu diesem Zweck sogenannte Skill Center implementiert, die an nur einem Standort lokalisiert global relevante Entwicklungsarbeiten durchführen. Damit wird vermieden, dass sich gleich mehrere Standorte mit denselben Fragestellungen und Themenfeldern beschäf­tigen.

Projektspezifische Entwicklungen laufen bei Sanofi an allen drei Zellkultur-Standorten in Boston, Paris und wie hier in Frankfurt. (Foto: © Sanofi)

Decker: Auch eine Produktspezialisierung gibt es. Frankfurt steht sicherlich ganz ­besonders für die mikrobielle Insulin­produktion und Fertigung. Dies gibt es so an anderen Sanofi-Standorten nicht. Dies hat natürlich historische Wurzeln und ist eine Art Alleinstellungsmerkmal. Mit der Erfahrung in Frankfurt in der Entwicklung und Produktion haben wir ein Biosimilar eines schnellwirkenden Insulins entwickelt und als erste Firma die Zulassung für dieses Produkt auf dem europäischen Markt erhalten. Biosimilars sind das biologische Pendant zu chemischen Generikaprodukten.

Bongs: Wenn Sie in der Historie dieses Standorts circa zehn Jahre zurückgehen, dann haben wir mit einer ziemlich überschaubaren Gruppe von 50 Mitarbeitern in der Zellkultur angefangen. Aktuell sind mehr als 200 Mitarbeiter mit der Entwicklung von Antikörpern beschäftigt. Die Zahl der Mitarbeiter im Bereich der mikrobiellen Expression wie beispielsweise ­Insulin ist mehr oder weniger stabil geblieben. Während es lange Zeit bedingt durch die unterschiedlichen Produktklassen eine Trennung zwischen den beiden ­Entwicklungsbereichen gab, sehen wir heute aufgrund neuer Molekülformate ­Synergien zwischen der tierischen und ­mikrobiellen Expressionsplattform. Aufgrund der räumlichen Nähe und der ­verstärkten Zusammenarbeit kann man von einem Bio-Center sprechen.

Bei der Planung von Anlagen müssen wir überlegen, welches die kleinstmögliche noch plausible Produktionsgröße ist.
Dr. Heinrich Decker

Plattform Life Sciences: Es scheint außer Frage zu stehen, dass Herstellungsprozesse zunehmend ­flexibler werden müssen, um auf ­Anforderungen der Substanzen und des Marktes reagieren zu können. Im extremsten Fall entwickelt man ein auf eine Person zugeschnittenes Medikament, Stichwort Personalisierung. Wo geht die Reise hierbei hin?

Decker: Das ist sicherlich ein ganz großes Thema, eine der größten Herausforderungen. Bei jedem Produkt muss man sich heute mehr und mehr fragen: Wie viele ­Patienten gibt es und welche Menge müssen wir für den Markt herzustellen in der Lage sein? Das betrifft beide Richtungen, sei es im großen Maßstab oder im kleinen. Gerade wenn wir eine Anlage erst planen und bauen müssen, sollte im Vorfeld ­abgesteckt werden, welches die kleinstmögliche noch plausible Größe ist. Größere Mengen können dann produziert werden, indem man die Anlage einmal oder mehrfach dupliziert. Man spricht in diesem Fall von einem Scale-out.

Bongs: Wie viel man von einem Produkt letztlich benötigt, lässt sich im Vorfeld nur sehr schwer schätzen. Abhängen wird es von zahlreichen Faktoren, und jeder Fall liegt anders. Und in der Tat: Hat man ­früher vom sogenannten Scale-up gesprochen, so stellen wir heute eher die Frage in der umgekehrten Richtung: Welches kleinste Marktvolumen können wir noch sinnvoll abdecken?

Plattform Life Sciences: Sind standardisierte Plattformen die Lösung, um flexibel zu bleiben?

Decker: In unserem Bereich muss man konkret versuchen, so flexibel wie möglich zu bleiben. Auch hier gibt es einen Fach­begriff: Ball Room Concept. Es handelt sich hierbei um große Produktionsräume, die im Prinzip leer stehen und in die man mobile Anlagen wie Bioreaktoren, Puffervorlagen und Chromatographieanlagen in unterschiedlicher Größe einbringen und herausnehmen kann, um flexibel auf den Bedarf reagieren zu können. Hierbei ­werden für die produktberührten Anlagen­teile im großen Umfang Einwegmaterialien – sogenannte Disposable Technologies – verwendet, um anschließend sehr schnell einen Produktwechsel durchführen zu können. Wenn man dann auf standar­disierte Plattformen zurückgreift, kann man in diesen Anlagen sehr effizient ­unterschiedliche Produkte in unterschiedlichen Mengen herstellen.

Bongs: Wenn das Marktvolumen gering ist oder wir nicht genau einschätzen können, ob unsere Prognose womöglich um zum Beispiel das Doppelte übertroffen wird, geht der Ansatz ganz klar dahin, hohe ­Einmalinvestitionen so gut es geht zu vermeiden. So produzieren wir aktuell einen Wirkstoff für Phase III, von dem wir nach kommerzieller Ausbietung im gesamten Jahr ganze fünf Kilogramm benötigen. Vielleicht werden es zehn Kilogramm sein, aber auf jeden Fall ist es nicht wirklich viel. Und diese kleine Menge müssen wir noch ökonomisch zu produzieren in der Lage sein. Das geht nur mit flexiblen ­Ansätzen und einer optimierten Anlagennutzung.

Wir produzieren aktuell einen Wirkstoff für Phase III, von dem wir nach kommerzieller Ausbietung im gesamten Jahr ganze fünf Kilogramm benötigen.
Dr. Jürgen Bongs

Plattform Life Sciences: Ist eigentlich schon in einem frühen Stadium einer Entwicklung absehbar, wie hoch der Gesamtaufwand wird – und gegebenenfalls auch schon, und das läuft parallel – zu welchem Preis ein Wirkstoff später angeboten werden kann?

Bongs: Ja, das stellt man in der Regel am Ende der Phase II fest, wo es um den Proof of Concept geht, also vereinfacht ausgedrückt die Machbarkeit, eingeschlossen die Wirksamkeit eines Präparats. Diese ­Informationen möchte man logischer­weise so früh wie möglich haben.

Decker: Im Late-Stage-Bereich, also wenn wir nicht nur ein Entwicklungsprojekt ­haben, sondern ein vermarktetes Produkt, arbeiten wir weiter an den Prozessen, um die Qualität zu sichern und unser Wissen zum Produkt und Verfahren zu vertiefen und damit die Versorgungssicherheit für die Patienten zu gewährleisten. Dies nennt man heute Life Cycle Management.

Bongs: Hier kommt ein weiterer Vorteil des Konzernverbunds ins Spiel. Im fort­geschrittenen Lebenszyklus eines Produkts tauschen die verschiedenen Abteilungen, aber auch die verschiedenen Standorte ihre Informationen aus, um Synergien zu realisieren und auch Best-Practice-Erfahrungen weiterzugeben.

Plattform Life Sciences: Sind die Kulturen an den Standorten untereinander beliebig kompatibel oder gibt es gar Konkurrenz?

Decker: Natürlich gibt es Kulturunter­schiede, etwa in der Führung, die in den USA eine andere ist als in Frankreich und in Frankreich eine andere als in Deutschland.

Bongs: Vergessen wir nicht, dass Konkurrenz nicht einengend sein muss, sondern auch belebend und befruchtend sein kann. Wir laufen keine Wettrennen untereinander, aber natürlich versucht jeder Sanofi-Standort sein Bestes. Kulturelle ­Unterschiede würde ich nicht überbewerten.

Decker: Auf keinen Fall – wir haben ja allein an jedem Standort für sich schon kultu­relle Unterschiede. Sogar wir drei hier sind schon kulturell unterschiedlich!

Plattform Life Sciences: Dr. Bongs, Dr. Decker, das mag ich unterschreiben. Lassen Sie uns bei Gelegenheit eine nächste Bestandsaufnahme vornehmen.

Das Interview führte Falko Bozicevic.

 

ZU DEN INTERVIEWPARTNERN

 

Dr. Heinrich Decker: leitet seit 2007 die Abteilung Chemistry and Biotechnology Development bei Sanofi in Deutschland am Standort Frankfurt. Gemeinsam mit seinem Team entwickelt er biotechnologische Verfahren, vor allem auf Basis mikrobieller Expression. Im Mittelpunkt stehen Proteine, die mit Hilfe von Mikroorganismen hergestellt werden

 

Dr. Jürgen Bongs: leitet seit 2014 die Einheit BioPharmaceutics Development bei Sanofi in Deutschland. Die Entwicklung biotechnologischer Prozesse steht bei ihm und seinem Team am Standort Frankfurt im Fokus. Seine Abteilung hat den Schwerpunkt bei tierischen Zellkulturen und deren Einsatz zur Herstellung von therapeutischen Antikörpern.

 


Dieser Artikel ist erschienen in der Ausgabe „Biotechnologie 2017“, die Sie bei uns auf der Seite bequem bestellen oder als E-Magazin lesen können.

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