Plattform Life Sciences: Herr Dr. Schühsler, Sie sind bereits sehr früh zur Biotechnologie gestoßen und haben die Branche durch den Aufbau von TVM Capital maßgeblich mitgeprägt. Was war aus Ihrer Sicht für den Aufschwung der Biotechbranche in Deutschland in den Anfangsjahren entscheidend?
Dr. Schühsler: Die Biotechentwicklung in Deutschland war von Anfang an von der rasanten Entwicklung der amerikanischen und ab ca. 1990 auch der britischen Biotechbranche inspiriert und beeinflusst. Die Grundlagen waren die ausgezeichnete Forschung in Deutschland, die beginnende Technologietransferlandschaft und eine kleine Gruppe von engagierten Akademikern und Unternehmensgründern. Vorreiter waren hier insbesondere die Technologietransfergesellschaft der Max-Planck-Gesellschaft, Max-Planck-Innovation, und die Hermann-von-Helmholtz-Gesellschaft mit Ascenion. Die Innovationen in diesen Forschungsinstitutionen lösten ab ca. 1993 etliche Unternehmensgründungen aus. Die Universitäten folgten in großer Zahl. Es war eine Zeit, in der Deutschland den Willen hatte, zur führenden Biotechnologienation in Europa aufzusteigen. Die Ambition in dieser Zeit war groß, unterstützt durch die KfW mit ihrer Tochtergesellschaft Technologiebeteiligungsgesellschaft (TBG). Das TBG-Co-Investment-Modell mit privaten professionellen Investoren war die entscheidende Initialzündung für die Entwicklung einer ganzen Branche.
Man muss dieses große Rad drehen, wenn man eine Branche aus dem Nichts heraus entwickeln will.
Auch spielte der damals initiierte BioRegio-Wettbewerb eine große Rolle: Viele Regionen nahmen an diesem Wettbewerb teil, Ministerien und regionale Verwaltung, Banken, Industrie, Start-ups, Privatinvestoren, Venture-Capital-Unternehmen, Medien und auch eigens dafür gegründete Unternehmen wie die BioM AG in München. BioRegio war das wichtigste Einzelprojekt in der Entwicklungsgeschichte der deutschen Biotechnologie. Diese Form der Zusammenarbeit über alle Teilnehmer an dieser Industrie hatte es noch nie gegeben. Man musste aber auch ein „großes Rad drehen“, um die Wachstumsdynamik zu erzeugen, an der Deutschland damals interessiert war. TVM Capital war zu der Zeit der erste und größte institutionelle Investor nach amerikanischem Vorbild mit einem Fokus auf Biotechnologie.
Eine Entwicklung, die 1996 zunächst in der Gründung des Neuen Markts mündete.
Dr. Schühsler: Ja. Der Neue Markt löste eine große Begeisterung an Unternehmertum im Allgemeinen und insbesondere auch in der Biotechnologie aus. Zum ersten Mal gab es einen Börsenmarkt für junge Technologieunternehmen in der Frühphase. Gleichzeitig gelang es uns, mit QIAGEN das erste deutsche Unternehmen an die Nasdaq zu bringen – ein äußerst erfolgreicher Börsengang, mit dem die Gründer und Manager von QIAGEN zu Vorbildern für viele andere Biotechunternehmer in Deutschland wurden. In den Jahren 1999 und 2000 wurde eine große Zahl deutscher Biotechunternehmen an der Börse eingeführt. Eine neue Branche am Kapitalmarkt war geboren.
Doch recht bald nach dem Jahr 2000 erfolgte der Niedergang des Neuen Markts. Was war dafür verantwortlich?
Dr. Schühsler: Aktienkurse von Technologieunternehmen waren in den Jahren 1999 und 2000 generell ins Unermessliche gestiegen. Das Schlagwort war „New Economy“, Bewertungsgrundsätze der Vergangenheit schienen schlicht außer Kraft gesetzt. Diese Börsenblase platzte für die Biotechnologie sehr schnell. Der Niedergang begann mit einem Interview zwischen Tony Blair und Bill Clinton Mitte März 2000. Sie erklärten darin das
humane Genom als „nicht patentierbar“, was zwar den Spezialisten in Patentrecht ziemlich klar war, aber der investierenden Mehrheit, die nur an diesem Momentum teilhaben wollten, in keinster Weise. Das führte zu einem raschen Niedergang der Aktienkurse in der Branche, die stark vom Aufstieg der Genomics-Unternehmen geprägt war. Genomics war „out“ in der deutschen Gesellschaft – und mit ihr die gesamte Biotechnologie, Technologieunternehmen und Venture Capital als Konzept.
Was bedeuteten diese Entwicklungen für TVM?
Dr. Schühsler: Das lässt sich am besten mit einem Beispiel verdeutlichen: TVM hatte noch kurz vorher, am 1. Februar 2000, das ursprünglich aus Hamburg kommende Unternehmen SEQUENOM – zu diesem Zeitpunkt in San Diego beheimatet – an die Börse gebracht; ein Lead-Investment aus dem Jahr 1994. Der Erstausgabepreis der Aktie lag bei 16 USD. Innerhalb weniger Wochen stieg die Aktie dann auf 200 USD, was zu einer beeindruckenden Börsenbewertung von ca. 5 Mrd. USD führte. In den zwei Jahren nach dieser Kehrtwende fiel der Aktienkurs bis auf 0,50 USD. Die Jahre 2000 und 2001 waren zweifellos ein Wendepunkt für Technologie als Thema und für die Biotechnologie. Ab 2003 waren nur noch klinische Entwicklungsprojekte von Wert. Zu diesem Zeitpunkt mehr denn je war unser Motto: Der beste Weg für TVM Capital, die Zukunft vorherzusagen, ist, sie zu gestalten und sich, wenn nötig, selbst neu zu erfinden – so wie viele unserer erfolgreichen Unternehmen, die durch diese Phase gehen mussten: MorphoSys, Evotec, QIAGEN, Medigene. Nach dem tragischen Terroranschlag in New York am 11. September 2001 ging die Finanzierungsbranche global, aber insbesondere auch in Deutschland in eine Phase der Inaktivität. Wir jedoch machten weiter und investierten beispielsweise Anfang Oktober 2001 in ein Series-A-Investment der Jerini AG, woraus eines der erfolgreichsten Investments der deutschen Biotechnologiebranche wurde (Exit 2008 an Shire für 500 Mio. USD). Ohne dieses Investment und unsere Courage wäre Jerini wohl damals zugrunde gegangen.
Herr Dr. Birner, 2000 stießen Sie zu TVM. Was motivierte Sie dazu, sich trotz des abzeichnenden Niedergangs der Biotechnologie zu widmen?
Dr. Birner: Ich unterschrieb meinen Vertrag bei TVM an dem Tag, an dem SEQUENOM an die Börse ging. Wie Helmut sagte, hatte sich im Laufe der ersten Wochen der Kurs mehr als verzehnfacht. Da dachte ich mir: Was für ein Glück, hier arbeiten zu können! Allerdings kam es anders – in den darauffolgenden zehn, 15 Jahren konnten solche Kurssteigerungen nie wiederholt werden. Doch selbst in den schwierigsten aller Zeiten, 2004 und 2005, konnten wir unseren sechsten Fonds mit einem Volumen von 240 Mio. EUR aufstellen. Als Erste in Deutschland und Europa gewannen wir dafür strategische Investoren wie Biogen und Genzyme. Das war zur damaligen Zeit ungewöhnlich: Venture-Capital-Firmen bevorzugten üblicherweise eine Trennung zwischen strategischen Partnern und Finanzinvestoren.
Dennoch lassen sich mit unternehmerisch kreativen Entscheidungen Krisen überstehen.
Mit welchen „Rezepten“ ist es TVM gelungen, sich auch in diesen Jahren zu behaupten?
Dr. Birner: Wir konnten auf unseren Kontakten der Anfangsjahre aufbauen und erfolgreich unsere Investitionsstrategien umsetzen, mit einer kontinuierlichen Ausrichtung auf die USA. Bereits 1986 hatten wir ein Büro in Boston eröffnet und waren seitdem stark in den USA vernetzt. Und wieder einmal machte TVM Capital viele Dinge vor allen anderen: 2005 vollzog Jerini den ersten Börsengang nach Niedergang des Neuen Markts in Frankfurt, 2005 tätigten wir das erste deutsche PIPE-Investment in Evotec mit signifikanten folgenden Restrukturierungen. Dass es das Unternehmen heute nach wie vor gibt und es äußerst gut dasteht, liegt auch an den mutigen Entscheidungen der Jahre 2005 bis 2009.
Die Branche hatte sich gerade wieder halbwegs erholt, da brach mit der Lehman-Brothers-Pleite das ganze Finanzsystem zusammen. Wie manövrierte TVM durch diese erneute Krise?
Dr. Birner: Als Erste in Deutschland finanzierten wir die Spin-outs unserer eigenen Portfoliofirmen, beispielsweise Evotec Neurosciences und DIREVO. Wir planten zu jener Zeit den Verkauf von DIREVO für 210 Mio. EUR an Bayer – genau an dem Tag, als Lehman bankrottging. Auf meinem Handy las ich morgens: „Most businesses will freeze from now on.“ Niemand hätte gedacht, dass der Bayer-DIREVO-Deal noch zustande kommt. Und doch: Es ist uns gelungen, am 15. Oktober 2008 DIREVO an Bayer zu verkaufen. Es folgte eine massive Konsolidierung des Markts mit zahlreichen traurigen Insolvenzen. Dennoch lassen sich mit unternehmerisch kreativen Entscheidungen Krisen überstehen: So entwickelten wir damals zusammen mit Eli Lilly das neue Konzept der projektfokussierten Finanzierung. Wir waren sicher, dass es sinnvoll ist, ein Medikament, von dem wir überzeugt sind, eher virtuell und kosteneffektiv zu finanzieren. Durch die Eli-Lilly-Kooperation entstand 2012 der Fonds TVM Life Science Innovation I mit 200 Mio. USD und 2018 der Fonds TVM Life Science Innovation II mit 480 Mio. USD.
Also ungefähr zu der Zeit, als Sie, Herr Dr. Berger, zu TVM stießen. Welche Themen waren seitdem entscheidend?
Dr. Berger: Ab 2012 nahmen vor allem die internationalen Kollaborationen wieder stark zu. Asien und insbesondere China entwickelten sich stark bis 2020. TVM hat sich in dieser Zeit immer weiter ausdifferenziert und sich in Europa und Nordamerika auf die genannte Finanzierungsstrategie von „Single Assets“ im Bereich Therapeutika und auf Late-Stage-Investments fokussiert. Wir engagieren uns so neben Pharma auch wieder mehr im Bereich Medizintechnik. Wir erlebten eine zunehmende Professionalisierung der Branche und damit auch einen wachsenden internationalen Wettbewerb. Die Branche wurde in diesen Jahren erwachsen, Produkte aus Deutschland erreichen den Weltmarkt und lösen zentrale Gesundheitsprobleme: Biotech ist schon lange nicht mehr nur eine reine Versprechung! BioNTech ist das allerbeste Beispiel für die Bedeutung deutscher Technologieentwicklung im globalen Gesundheitsmarkt. In diese Zeit der stärkeren internationalen Aktivität fällt auch die Abspaltung von TVM Capital Healthcare in Dubai, die sich auf Infrastrukturinvestments im Gesundheitsbereich in „Emerging Markets“ – insbesondere im Mittleren Osten und nun auch in Südostasien – spezialisiert und seit 2011 ein unabhängiges Unternehmen ist.
Wir werden die Erfolgsgeschichte von TVM Capital hier vor Ort fortführen.
Die Coronapandemie stellte eine weitere deutliche Zäsur dar. Wie konnte sich TVM in dieser Zeit positionieren?
Dr. Berger: Kurz vor der Coronapandemie konnten wir uns unseren bisher größten Fonds auflegen. Die weltweite Nachfrage nach Biotechinvestitionen stieg zu dieser Zeit enorm, da die Bedeutung dieser Branche deutlicher wurde denn je. Dies hatte selbstverständlich auch positive Auswirkungen auf uns. Erfahrene Biotechinvestoren sind gefragt und bringen neben dringend benötigtem Kapital das Know-how und die Netzwerke, um bahnbrechende Ideen auch erfolgreich weiterzuentwickeln. Heute befinden wir uns zwar wieder in einem rückläufigen Markt, in einer Art „Tal der Tränen“, aber auch das wird vorübergehen. Die Zeiträume, in denen Boom- und Bust-Phasen auftreten, sind insgesamt kürzer geworden. Wir bleiben aber optimistisch, dass der Markt sich nach einer langen Durststrecke wieder erholen wird – wie so oft in der Geschichte von TVM.
Gilt das auch für den Standort Deutschland?
Dr. Berger: Für die deutsche Biotechnologie ist es trotz der BioNTech-Erfolgsgeschichte nicht einfacher geworden. Die Gründe sind hinreichend bekannt. Wir haben in Europa einen strategischen Nachteil durch deutlich weniger institutionelles Kapital für Fonds als in den USA, China oder auch anderen europäischen Ländern. Auch der nur rudimentäre Kapitalmarkt für Biotechnologie in Europa ist keine Hilfe. Dennoch: Gerade im Gesundheitsbereich, aufgrund der exzellenten wissenschaftlichen Basis wie in den Bereichen Drug Delivery und Genomics, ist Deutschland gut aufgestellt. Hier gibt es vielversprechende Investmentchancen: Unternehmen, die bisher kaum jemand kennt, die aber an den Technologien der Zukunft arbeiten. Wir sind dem Standort treu verbunden. Wir investieren auch weiterhin, mit internationaler Unterstützung, in Deutschland und werden die Erfolgsgeschichte von TVM Capital hier vor Ort fortführen.
Íhnen allen: ganz herzlichen Dank für diese Einblicke. Wir wünschen Ihnen viel Erfolg für die Zukunft und wir werden gespannt verfolgen, wie sich TVM weiterentwickelt.
Das Interview führte Urs Moesenfechtel.
Autor/Autorin
Urs Moesenfechtel, M.A., ist seit 2021 Redaktionsleiter der GoingPublic Media AG - Plattform Life Sciences und für die Themenfelder Biotechnologie und Bioökonomie zuständig. Zuvor war er u.a. als Wissenschaftsredakteur für mehrere Forschungseinrichtungen tätig.