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Gehen, Stehen, Heben oder Greifen fällt Menschen mit Rückenmarksverletzungen entweder schwer oder ist ihnen gar unmöglich. Hinzu kommen meist Beschwerden wie Blasenschwäche, Störungen bei der Blutdruckregulation, sexuelle Funktionsstörung oder Muskelschwund. Das niederländische Unternehmen ONWARD Medical N.V. hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Beeinträchtigungen durch Neurostimulation zu verbessern und Menschen mit Rückenmarksverletzungen dadurch wieder mehr Lebensqualität zu geben. Von Urs Moesenfechtel
Die von ONWARD entwickelte „ARCTherapie“ zur Verbesserung der Mobilität und anderer Funktionen bei Menschen mit Rückenmarksverletzungen beruht auf den Technologieplattformen „ARC-EX“ und „ARC-IM“. Mit beiden wird das Rückenmark an den verletzten Stellen gezielt und programmierbar stimuliert. Geschädigte Nervenbahnbereiche können so entweder überbrückt oder fehlende Nervenimpulse aus dem Gehirn künstlich ersetzt werden. Bei ARC-EX geschieht dies durch äußerlich am Patienten angebrachte elektrische Kontaktpunktstimulatoren. ARC-IM hingegen ist ein implantierbares Gerät, das elektronische Impulse an das Rückenmark abgibt.
Im September 2022 veröffentlichte ONWARD Ergebnisse aus einer Zulassungsstudie mit dem externen System, wonach Kraft und Funktion von Händen und Armen bei Menschen mit chronischer Tetraplegie, also der kompletten Lähmung aller vier Extremitäten, deutlich verbessert werden konnten.
Die ursprüngliche, natürliche Mobilität des Patienten kann zwar nicht vollständig wiederhergestellt, aber doch entscheidende Verbesserungen erreicht werden, sodass die Patienten bei alltäglichen Aktivitäten unabhängiger sein können. „Wir bereiten gerade die Anträge auf Zulassung unseres externen Systems ARC-EX in den USA und in Europa vor. Läuft alles planmäßig, erwarten wir noch in diesem Jahr die Entscheidung der FDA für diese Therapie. Wir planen den Markteintritt bereits für Ende 2023“, sagt Dave Marver, CEO von ONWARD.
Für das implantierbare System zeigen vorläufige klinische Ergebnisse, dass die Blutdruckkontrolle und -stabilisierung wesentlich verbessert werden kann – und zwar trotz teils komplett durchtrennter Rückenmarksnervenbahnen. Ein plötzlicher Blutdruckabfall beim morgendlichen Aufsitzen des Patienten und eine darauffolgende Ohnmacht ist eine häufige Komplikation bei Menschen mit Rückenmarksverletzungen.
Für Millionen von Menschen wäre das der therapeutische Durchbruch
Diversen Studien zufolge sind derzeit ca. 7 Millionen Menschen weltweit von einer Rückenmarksschädigung betroffen. Die Anzahl der Personen mit einer Rückenmarksverletzung, bei denen durch ARC-EX und ARC-IM eine Funktionsverbesserung erreicht werden könnte, schätzt das Unternehmen auf ca. 750.000 in den USA und Europa, woraus ein insgesamt adressierbarer Markt von über 20 Mrd. USD abgeleitet wird.
Darüber hinaus hat ONWARD für seine Therapien von der US-amerikanischen Food and Drug Administration (FDA) insgesamt bereits acht Breakthrough Device Designations erhalten. Dieses Programm ermöglicht Unternehmen eine priorisierte Prüfung sowie die Möglichkeit, sich während der gesamten Prüfphase vor der Markteinführung auf dem Weg zur endgültigen Kommerzialisierung mit FDA-Experten auszutauschen.
ONWARD: Breiter Patentschutz und wenige Mitbewerber sollen Erfolg sichern
Das Unternehmen, das 2015 von dem Wissenschaftler Prof. Dr. Grégoire Courtine und der Neurochirurgin Prof. Dr. Jocelyne Bloch gegründet wurde, verfügt mit derzeit über 330 beantragten oder erteilten Patenten über einen breiten Schutz des geistigen Eigentums.
Daher betrachtet sich ONWARD als gut aufgestellt gegenüber den Wettbewerbern von ARC-EX – die Unternehmen SpineX, Cosyma und ANEUVO –, deren Produkte sich darüber hinaus noch in einem sehr frühen Entwicklungsstadium befinden.
Im Bereich der Implantat-Neurostimulation gibt es mit den Firmen Axonics, Inspire und Nevro ebenfalls nur wenige Mitbewerber, die aber bisher nicht in der Indikation Rückenmarksverletzung aktiv sind.
2021 an der Euronext in Brüssel und Amsterdam und brachte dem Unternehmen knapp 80 Mio. EUR ein – was seinerzeit als größtes IPO eines europäischen Medizintechnikunternehmens in der frühen Entwicklungsphase galt. Insgesamt hat das Unternehmen seit der Gründung 150 Mio. EUR an Finanzierung erhalten, u.a. von institutionellen Investoren wie dem niederländischen Investor Invest-NL und dem privaten Investmentzweig der Onassis Foundation, Olympic Investments, sowie von führenden europäischen Life-Sciences-Risikokapitalgebern wie EQT Life Sciences, Inkef Capital, Gimv und Wellington Partners, die das Unternehmen seit der Series A unterstützen. ONWARD ist zudem eng mit Patientenorganisationen wie The Spinal Injuries Association (SIA), Wings for Life sowie der Christopher & Dana Reeve Foundation verbunden. Letztere engagiert sich auch finanziell.
Die ONWARD-Medical-Aktie (ONWD) hat sich mittlerweile bei etwa 5 EUR eingependelt, die Market Cap liegt damit bei ca. 150 Mio. EUR. „Angesichts unserer starken Finanzposition erwarten wir, dass unsere liquiden Mittel voraussichtlich bis Ende 2024 ausreichen. Für 2023 planen wir, weitere Möglichkeiten zur Stärkung unserer Liquidität zu verfolgen“, so Lara Smith Weber, CFO von ONWARD.
Hoffnungsträger BCI-Technologie
Schon seit Längerem arbeitet ONWARD auch an „Brain-Computer-Interfaces (BCI)“, mit denen Bewegungsabsichten der Patienten direkt erfasst und an bewegungssteuernde bzw. -unterstützende Systeme wie ARC-IM weitergegeben werden können. Eine Therapie mittels BCI könnte somit eine natürlichere Steuerung von Bewegungsabläufen oder anderer Funktionen ermöglichen. Noch in diesem Jahr plant das Unternehmen die erste Anwendung der BCI-Technologie am Menschen im Rahmen einer Machbarkeitsstudie zur Wiederherstellung der Mobilität, finanziert durch eine Förderung des European Innovation Council (EIC). In diesem Innovationsfeld ist auch Elon Musks Firma Neuralink unterwegs. Wir werden den weiteren Verlauf des „BCI-Rennens“ im Blick behalten.
KURZPROFIL ONWARD MEDICAL N.V.
Gründung: 2015
Standorte: Eindhoven (Niederlande),
Lausanne (Schweiz)
Sektor: Medizintechnik
Anzahl Mitarbeiter: 100+ FTEs
Internet: www.onwd.com
Autor/Autorin
Urs Moesenfechtel, M.A., ist seit 2021 Redaktionsleiter der GoingPublic Media AG - Plattform Life Sciences und für die Themenfelder Biotechnologie und Bioökonomie zuständig. Zuvor war er u.a. als Wissenschaftsredakteur für mehrere Forschungseinrichtungen tätig.