Bildnachweis: Foto: © Matthias Brandt | Universität Leipzig – ICCAS.
In Leipzig wird seit Jahren Expertise im Bereich der virtuellen Zwillinge in der Medizin als innovative Technologie für die Gesundheitsversorgung der Zukunft aufgebaut. Ziel ist die Entwicklung der nächsten Generation virtueller Zwillinge. Diese neuen „doppelten Lottchen“ der Medizin gehen weit über eine gemeinsame Schnittstelle zu Daten oder eine elektronische Patientenakte hinaus. Wie geht Leipzig bei ihrer Entwicklung vor?
Ein virtueller, medizinischer Zwilling ist vereinfacht gesagt ein computerbasiertes Abbild eines Patienten. Er verknüpft alle fallbezogenen Daten wie Laborbefunde, Anamnese, CT-/MRT-Bilder, Genomdaten oder Auswertungen von Befragungen zur Lebensqualität miteinander. Virtuelle Zwillinge ermöglichen ein proaktives Gesundheitsmanagement für Patienten, die Optimierung von Therapien, die Vorhersage von Behandlungsergebnissen. Zudem können sie Entscheidungshilfen zu verschiedenen medizinischen Fragen bieten.
Flexible und kosteneffiziente Integration virtueller Zwillinge durch MediNet
Mit virtuellen Zwillingen werden standardisierte Schnittstellen zu den klinischen IT-Systemen geschaffen, in denen die Patientendaten verteilt gespeichert sind. Am Standort Leipzig wird bereits an der nächsten Generation virtueller Zwillinge gearbeitet. So hat sich das seit 2022 bestehende Forschungs- und Entwicklungsprojekt MediNet des Innovation Center Computer Assisted Surgery (ICCAS) zum Ziel gesetzt, den Transfer im Gesundheitssektor zu beschleunigen. Dazu wurde eine Technologieplattform für zeit- und ortsunabhängige medizinische Versorgung auf Basis virtueller Zwillinge geschaffen. Der Fokus liegt auf einer verbesserten Integration mobiler Sensorik, stationärer Medizintechnik, IT-Systemen sowie den medizinischen Experten. Regionale Unternehmen werden bei der Integration ihrer Systeme unterstützt.
MediNet soll dazu beitragen, die größten Hürden für den Eintritt neuer Produkte in den Gesundheitsmarkt zu überwinden: strukturierte Identifikation von Bedarfen und Synergien sowie Einbettung in die komplexen, wenig standardisierten IT-Landschaften der Versorger. Das bis März 2026 finanzierte Projekt zeichnet sich durch eine Besonderheit aus: Die Backend-Technologie (virtueller Zwilling) der MediNet-Plattform ist unabhängig von medizinischen Fachdisziplinen und Herstellern. Für die Einbindung einer neuen KI-Methode oder Anwendung ist keine individuelle Anpassung an die technischen Gegebenheiten in einem Krankenhaus mehr nötig. „Die MediNet-Plattform senkt Risiken und Kosten für KMU und Anwender im Gesundheitswesen. Die Plattform wird stetig erweitert, sodass sich KMU, die innovative Gesundheitstechnologien entwickeln, auch zukünftig daran beteiligen können“, so Prof. Dr. Thomas Neumuth, technischer Direktor des ICCAS an der Universität Leipzig.

Das CERTAINTY-Projekt – virtuelle Zwillinge in der Krebsimmuntherapie
Am Standort Leipzig wurde im Dezember 2023 auch das CERTAINTY-Projekt gestartet. Darin wird ein virtueller Zwilling für die Krebsimmuntherapie entwickelt, insbesondere für CAR-T-Zell-Behandlungen bei Multiplem Myelom. Die Leipziger Akteure am Fraunhofer-Institut für Zelltherapie und Immunologie (IZI), an der Universitätsmedizin Leipzig und dem ICCAS sowie dem Fraunhofer-Zentrum für Internationales Management und Wissensökonomie (IMW) kooperieren in einem internationalen Konsortium mit Biotechunternehmen wie Singleron Biotechnologies GmbH Deutschland, ITTM S.A. Luxemburg und die TriNetX Oncology GmbH Deutschland oder Roche Pharma AG Schweiz. Ebenso sind weitere Forschungseinrichtungen und Kliniken in Deutschland, der Tschechischen Republik, Frankreich, Belgien und den Niederlanden involviert. Hinzu kommen Patientenorganisationen und Fachgesellschaften wie der Myeloma Patients Europe AISBL mit Hauptsitz in Belgien, die Europäische Gesellschaft für Blut- und Knochenmarktransplantation (EBMT) aus den Niederlanden oder die HealthTree Foundation in den USA. In den nächsten viereinhalb Jahren ist mit CERTAINTY der Aufbau einer komplexen Infrastruktur für virtuelle Zwillinge in der zellulären Krebsimmuntherapie geplant, die Informationen von der Zellebene des Immunsystems über klinische Daten, Behandlungsverläufe und sozioökonomische Faktoren bis hin zu Herstellungsprozessen von CAR-T-Zelltherapeutika verbindet.
Die hohen Kosten und die eingeschränkte Verfügbarkeit stellen aktuell noch große Herausforderungen dar.
„In CERTAINTY wird basierend auf verschiedensten computergestützten Modellen und Algorithmen ein virtueller Zwilling für den persönlichen Krankheits- und Behandlungsverlauf von Patientinnen und Patienten mit Multiplen Myelom, für die eine Behandlung mit CAR-T-Zelltherapie geeignet ist, entwickelt. Darüber hinaus ist langfristig eine Adaption des virtuellen Zwillings auf weitere Indikationen geplant, die mit zellulären Immuntherapien behandelt werden“, so Dr. Kristin Reiche, CERTAINTY-Koordinatorin und stellvertretende Abteilungsleiterin Diagnostik am Fraunhofer-Institut für Zelltherapie und Immunologie in Leipzig. „Die CAR-T-Zelltherapie hat in den vergangenen Monaten die Therapie des Multiplen Myeloms revolutioniert. Die hohen Kosten und die eingeschränkte Verfügbarkeit stellen aktuell noch große Herausforderungen dar. Mit dem virtuellen Zwilling sollen in Zukunft Patientinnen und Patienten identifiziert werden, die ganz besonders von dieser wegweisenden Therapie profitieren. Dies stellt einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur Heilung des Multiplen Myeloms dar“, so PD Dr. Maximilian Merz, Klinische Leitung und Oberarzt für das Multiple Myelom und die CAR-T-Zelltherapie am Universitätsklinikum Leipzig.
Herausforderungen und Forschungsaktivitäten im Bereich virtueller Zwilling
National wie international ist eine wachsende Forschungsaktivität zu virtuellen Zwillingen in der Medizin zu verzeichnen, doch die meisten Projekte in diesem Feld fokussieren bestimmte Erkrankungen. Häufig wird eine festgelegte Kombination von Komponenten entwickelt, die dann entsprechend nur in sehr spezifischen Kontexten anwendbar ist. Unabhängige Plattformen und geeignete Standards existieren bisher nicht oder sind nicht ausreichend breit aufgestellt. Insbesondere die Abhängigkeit von großen Herstellern limitiert die Möglichkeiten für den schnellen Markteintritt von innovativen Produkten von Start-ups sowie kleinen und mittleren Unternehmen.
Langfristiges Ziel ist die Etablierung des Mitteldeutschen Reviers als eine Modellregion für virtuelle Zwillinge.
Das Leipziger Konzept für die nächste Generation virtueller Zwillinge
Die nächste Generation virtueller Zwillinge, wie sie nun im Rahmen von MediNet und CERTAINTY entwickelt wird, nimmt sich dieser Probleme an und geht damit weit über eine gemeinsame Schnittstelle zu Daten oder eine elektronische Patientenakte hinaus. Anstelle einer Vermarktung eines einzelnen Virtueller-Zwilling-Produkts als Standalone oder als ein Produkt, das sich fest in das Ökosystem eines großen Unternehmens integriert, wird der Markt durch das Leipziger Konzept virtueller Zwillinge für Innovationen geöffnet. Im gesamten Partnernetzwerk wird an einer dauerhaft tragfähigen Etablierung der virtuellen Zwillinge in der Gesundheitsversorgung gearbeitet. Langfristiges Ziel ist die Etablierung des Mitteldeutschen Reviers als eine Modellregion für virtuelle Zwillinge. Gegenwärtig werden Forschungs- und Entwicklungsvorhaben zum Aufbau und zur Etablierung virtueller Zwillinge in der Gesundheitsversorgung durch öffentliche Drittmittel unterstützt. Diese stammen beispielsweise von der EU und der Infrastrukturförderung in der Region. Die Förderungen beinhalten regionale Transferaktivitäten, die darauf abzielen, Unternehmen, Forschungseinrichtungen und Versorger zu verknüpfen. Allein in MediNet und CERTAINTY arbeiten bereits über 20 Forscher, Kliniker und Ingenieure an der nächsten Generation virtueller Zwillinge.
Autor/Autorin
Urs Moesenfechtel, M.A., ist seit 2021 Redaktionsleiter der GoingPublic Media AG - Plattform Life Sciences und für die Themenfelder Biotechnologie und Bioökonomie zuständig. Zuvor war er u.a. als Wissenschaftsredakteur für mehrere Forschungseinrichtungen tätig.