Bildnachweis: Molecular Health.

Die Heidelberger Firma Molecular Health hat in jahrelanger Arbeit eine der größten, „tiefsten“ und vollständig kuratierten digitalen Plattformen für die Biomedizin aufgebaut. Das „Dataome“ genannte Herzstück des Unternehmens ist nicht einfach nur eine Datenbank, sondern eine globale digitale Plattform für biomedizinische und pharmazeutische Informationen und reale Patientendaten, die durch kontinuierliches und rigoroses Mining, Kuratieren und Strukturieren von Milliarden molekularer und klinischer Datenpunkte in Bezug auf Gene, molekulare Mechanismen, Phänotypen, Krankheiten, Medikamente und Ergebnisse gespeist ist und wird. Die Plattform Life Sciences sprach mit Dr. Friedrich von Bohlen über den Stand der Digitalisierung im deutschen Gesundheitssystem, Hürden und Herausforderungen sowie einzelne Lichtblicke am Horizont.

 

Plattform Life Sciences: Digitalisierung und Gesundheit in Deutschland – wo stehen wir?

Dr. von Bohlen: Nüchtern betrachtet fehlt es noch an vielem: Wir haben keine elektronische Gesundheitsakte, die diagnostischen datengenerierenden Ansätze laufen nicht zusammen, bleiben sehr fragmentiert. Ich bin so weit, dass ich mir eine dirigistische Hand wünsche, die hier einmal einen vernünftigen Plan und Prozess festlegt.

Ist der deutsche Markt aber so relevant, dass man es jedenfalls hier auch schaffen muss, oder könnte man sich auch in „digitaleren“ Ländern begnügen?

Deutschland zu modernisieren, das treibt uns ja an bei Molecular Health – und ­natürlich insgesamt die Hopp-Investments, auf die ich hier gar nicht näher eingehen kann. Aber man muss auch sehen: Das eigentliche Kerngeschäft ist Pharma, und Pharma agiert global, also muss man auch selbst auf dieser Ebene unterwegs sein. Und aus dieser Warte – ohne arrogant klingen zu wollen –, da ist dann Deutschland eher ein Nebenschauplatz.

Auf welche Widerstände stoßen Sie denn da tatsächlich?

Generell haben wir ein kulturelles Problem mit Visionen. Ich leite das so ab, dass wir aus dem Maschinenbau einen inkrementellen Innovationsfortschritt gewohnt sind, kleine Schritte der Verbesserungen, die auch noch mit meist überschaubaren finanziellen Mitteln zu stemmen sind. Das ist gedanklich ein riesiger Unterschied zu Sprunginnovationen, deren Notwendigkeit von hoher Wagnisfinanzierung und einem Ökosystem, das dies versteht und solche Beträge risikobalanciert bereitstellen kann.

Dr. Friedrich von Bohlen, CEO von Molecular Health und Managing Director der dievini Hopp BioTech holding GmbH & Co KG.

Ist der Graben zwischen akademischer Wissenschaft und Industrie noch immer zu groß?

Pauschal ist es immer noch so, dass der Technologietransfer in Deutschland in den Life Sciences nicht gut ist. Das hat tausend Gründe und an einzelnen Stellen, bei einzelnen Einrichtungen funktioniert es durchaus. Aber er wird oft noch nicht als „eigene DNA“ einer Forschungsstätte gelebt. Auf der anderen Seite haben wir viele Wissenschaftseminenzen, die alles, was Wirtschaft ist, als Geschäftemacherei diskreditieren. Damit kann man ja vielleicht noch leben, aber einige davon halten auch die wissenschaftliche Arbeit in Firmen für höchstens zweitklassig. Genau das Gegenteil ist der Fall: Wenn eine Firma im Hightechbereich heute nicht mindestens so gut ist wie die publizierende Wissenschaft, wird es sie morgen nicht mehr geben.

Ihre Sicht auf finanzielle Möglichkeiten in Deutschland klingt häufig ähnlich kritisch.

Leider ja. Viel Wagniskapital in Deutschland gibt es nicht, die entsprechenden Gesellschaften kann man an einer Hand abzählen. Gehen Sie mal ins Silicon Valley: Dort sitzen die Tür an Tür, und wer eine Idee hat und Geld braucht, kann die alle hintereinander abklappern. Dann rühmen wir uns jetzt der Family Offices, die uns ­BioNTech und CureVac beschert haben – es gibt noch viel mehr Family Offices, die meisten aber setzen auf konservative Bewahrung des Vermögens. Dabei gibt es ja neben Biotech noch zig andere spannende und zukunftsrelevante Themen – da würde ich mir wünschen, dass viele jedenfalls mit einem Teil ihres Vermögens mutiger aktiv werden.

Zum „streitbaren Geist“ Friedrich von Bohlen ein Kurzporträt im aktuellen Heft

Zurück zu Molecular Health und der Innovation, die darin steckt.

Ich habe Dietmar Hopp CureVac 2005 als eine transformative Pharmafirma vorgestellt, die mRNA breit in den Markt bringen und einmal viele Milliarden wert sein wird. Daran habe ich nie gezweifelt. Ich habe ihm auch Molecular Health als transformierendes Unternehmen vorgestellt, aber wir sind ganz anders als beispielsweise CureVac. Wir adressieren Prozesse, uns geht es nicht um einzelne Produkte, einzelne neue Medikamente oder auch eine neue Klasse von Medikamenten. Wir bringen die biologische Grammatik in die Medizin, und das sind Daten und Algorithmen – ob das nun gerade Big Data, AI oder sonst wie heißen mag, ist völlig egal.

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Warum ist dafür jetzt die richtige Zeit?

Nun, weil es andere Länder um uns herum schon machen. Wir müssen einfach auch Gas geben. Niemand wartet auf Deutschland. Andere, wie die USA und China, stehen schon auf dem Platz und spielen. Und durch dieses „Wir-tun-es-einfach“ bekommen sie einen Vorteil, generieren Ergebnisse, lernen aus Fehlern, haben am Ende etwas vorzuzeigen als Referenz. Der leider oft übliche Prozess ist dann, weil z.B. amerikanische Firmen schon mit Real-World-Daten gearbeitet haben, dass Deutschland das dann irgendwann von dort einkauft. Wenn wir es nicht selbst in Deutschland ausprobieren und Referenzen generieren können, haben wir immer das Problem des Propheten, der im eigenen Land nichts zählt. Das macht jedes Gespräch schwierig.

Profitieren Sie aber auch von der Aufmerksamkeit, die BioNTech, CureVac und andere gerade für den Sektor geschaffen haben?

Natürlich. Die Beispiele von BioNTech und CureVac zeigen ja für viele völlig überraschend: So könnte es mit Innovationen aus Deutschland ja auch gehen. Die Frage wird nun sein: Ändern wir deswegen wirklich die Verhaltensweisen? Da bin ich skeptisch. Ich setze auf die Politik und Kommunikation: Hier muss es nun ein konstruktives Umdenken geben. mRNA-Biotech aus Deutschland funktioniert – geben wir anderen deutschen Sprunginnovationen ebenfalls eine Chance!

Wie kann das nun Ihren eigenen Ansatz voranbringen?

Unser vorgeschlagenes molekulares Krankheitsmodell ist erst mal eine Hypothese, von der wir glauben, dass sie eine Krankheitsvorhersage und Therapieoptionen enorm verbessert. Stellen Sie sich einmal vor: Das Virus hat 30 Gene und löst damit eine riesige Vielzahl von Symptomen in allen möglichen Organen aus – wie soll das gehen? Hier kann man nur die Zusammenhänge erkennen, wenn man die gesamten Molekülnetzwerke und interaktionen im Menschen ansieht. Unsere Analyse ergab schon vor einem Jahr: Es wird hier ein Alarmsignal angestoßen, das dann nicht mehr zurückgenommen wird, und diese anhaltende Alarmierung des Systems kann erklärbar zu diesen ganzen Folgeschäden führen.

Wo stehen Sie damit?

In diesem Jahr ist es uns gelungen, das Bundesgesundheitsministerium zu interessieren und ein gemeinsames Symposium zu organisieren. Das hat unheimlich geholfen, mit vielen Leuten ohne Vorbehalte über ein strukturiertes Pilotprojekt zu sprechen. Prof. Dr. Werner vom Uniklinikum Essen hat sich ebenfalls begeistern lassen, und jetzt haben wir die Möglichkeit, unsere begründeten Hypothesen in der Praxis zu testen. Das kann ein Wellenbrecher werden – nicht nur für COVID, sondern auch für so gut wie alle Erkrankungen.

Was erhoffen Sie sich dabei konkret?

Zuerst einmal sind wir froh über die ­Bereitschaft und das hohe Engagement der ganzen Essener Klinik, die Ärzte und Verwaltung, die eine zusätzliche Arbeit auf sich nehmen. Gerade beim Blick auf die historischen Fälle wollen wir Muster erkennen, die in der Logik unseres Modells bessere Vorhersagen treffen lassen, und Behandlungsvarianten auswählen, die zu einem besseren Therapieergebnis führen.

Dieses „Muster“, das sind auch die viel beschriebenen „Biomarker“, um die es in der personalisierten Medizin immer geht. Warum bei Corona erst so spät?

Ich denke schon, dass viele Forscher nach Biomarkern gesucht haben, noch immer suchen. Es gibt ja in Deutschland durchaus viel Forschung zu COVID-19, allerdings nach meiner Wahrnehmung eben in sehr vielen Gruppen mit überall ein bisschen Geld. So entstehen lauter gute Einzelansätze – aber nichts davon ist miteinander synchron, vermutlich wird davon nichts allein zum Durchbruch führen. Es ist auch hier eher ein inkrementeller Ansatz, und das führt zu einer Art „micro-science“, der am Ende immer die Power fehlt. Auch hier versuchen wir nun, einige dieser Gruppen zusammenzuführen und die gemeinsamen Daten zusammenzubringen. Dann bekommt das die Tiefe, die zu wirklichen Erklärungen führt.

Wie fühlt sich das mit Molecular Health gerade für Sie an?

Ohne Dietmar Hopp und seine Geduld wären wir als Molecular Health nicht mehr da, weil uns in Deutschland niemand richtig Geld geben wollte. In Amerika schon – aber dort auch nur zu Spielregeln, die nicht zu der notwendigen Zeitspanne eines wirklich transformativen Ansatzes passen. Wenn Sie eine positive Analogie suchen: BioNTech und CureVac sind finanziert durch unternehmerische Investoren, die das verstehen und akzeptieren. Wir haben nun auch zehn Jahre gebraucht, um unsere Datenbank aufzubauen, jetzt aber kommen wir zum Proof, und natürlich ist das gerade enorm spannend. Der Mehrwert unserer Datenbank wird jetzt zum Tragen kommen: Nicht nur vollständige, sondern vor allem kurierte Daten sind dort eingepflegt. Denn mit dem Sammeln fängt die eigentliche Arbeit erst an – das musste IBM Watson dann auch einsehen. Und auch KI kann aus schlechten Daten keine guten machen. Gerade in Healthcare braucht das einen orchestrierten Ansatz unterschiedlicher Expertisen, Technologien und Herangehensweisen.

Wenn man sich diese Wissensdatenbank ansieht, liegt die Frage auf der Hand: Warum machen Sie nicht selbst mehr daraus, als „nur“ die Erkenntnisse an andere weiterzugeben?

Ja, wir können und wollen selbst auch Therapeutika entwickeln und haben Programme identifiziert. Eigene Therapeutikaentwicklung hat aber noch mal einen ganz anderen Kapitalbedarf. Wir haben ein balanciertes Modell mit Partnerschaften mit Pharma und eigenen Programmen.

Wo wollen Sie mit dieser wissensbasierten Gesundheitsdatenbank einmal hin?

Da gibt es zwei Hauptrichtungen. Zum einen geht es darum, hohe Wissens- und Versorgungsqualität flächendeckend zu ermöglichen. Nicht jeder kennt die medizinischen Top-Experten – deshalb muss die Expertise breit verfügbar gemacht werden. Zum anderen geht es über die Versorgung hinaus um „prädiktive Prävention“. Man wird, wenn man möchte, zu einem individuellen hochwissenschaftlichen Gesundheitsvorsorgeplan kommen. Doch dazu, nochmals mein Appell, brauchen wir die realen Daten. Wir alle sind Teil eines solchen Ansatzes – und wir alle wollen länger gesund bleiben oder besser behandelt werden. Das ist die neue Solidargemeinschaft, und Daten sind deren Währung.

Lassen Sie uns zum Schluss das Thema Sicherheit streifen. Ist das nicht die allergrößte Hürde für jedes Geschäft mit Daten, mit Wissen?

Absolut – es ist aber kein Thema für den Gesundheitsbereich allein, sondern überall. Und überall ist es ein Wettlauf zwischen Sicherheit und Missbrauch, überall helfen Sicherheitsvorkehrungen nur bedingt. Es müssen drakonische Strafen mit Missbrauch verbunden sein, solche Daten zu stehlen oder zu manipulieren. Ich rede von langen Gefängnisstrafen. Datenmissbrauch muss gesellschaftlich geächtet werden und darf auf keinen Fall mit einem Achselzucken hingenommen werden. Innovationen sind die beste Medizin für unsere Zukunft. Dabei gilt es, diese sowohl zu ermöglichen als auch zu schützen.

Herr Dr. von Bohlen, vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Dr. Georg Kääb.

 

ZUM INTERVIEWPARTNER

Dr. Friedrich von Bohlen ist CEO von Molecular Health und Managing Director sowie Mitgründer der dievini Hopp BioTech holding GmbH & Co KG. dievini verwaltet die Biotechinvestitionen des SAP-Mitgründers Dietmar Hopp und seiner Familie.

Autor/Autorin

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