Hannes Balla macht keine halben Sachen. Der Held des DDR-Kultfilms „Spur der Steine“ aus dem Jahr 1966 ist ein Querkopf: Mit seiner Baubrigade errichtet er trotz aller Widrigkeiten ein Kraftwerk. Der Film steht für viele Ostdeutsche bis heute für den kreativen Umgang mit schwierigen Realitäten. So auch für die Innovationsakteure aus Leipzig. Von Urs Moesenfechtel

André Hofmann, stellver­treten­der Vorstandsvorsitzender von ­biosaxony e.V., dem gesamtsächsischen Verband für Biotechnologie, Medizintechnik und Gesundheitswirtschaft und Dr. Ronny Schulz, Projektmanager für das Cluster Biotechnologie und Gesundheitswirtschaft der Stadt Leipzig, meinen: „Wir fühlen uns oft ähnlich – wie eine Art ‚Baubrigade‘ für Innovationen.“ Wir trafen die beiden und weitere Leipziger Innova­tionsakteure, um mehr über ihre Smarte-Medizin-Aktivitäten zu erfahren.

„Auch wir bauen in Leipzig und im Mitteldeutschen Revier an einem neuen ‚Kraftwerk‘ für die Zukunft“, so Hofmann. Wichtige Partner sind dabei das als Top-Accelerator in Europa ausgezeichnete SpinLab und dessen Kooperationspartner, die Handelshochschule Leipzig (HHL), sowie der biosaxony-Accelerator „MEDICAL FORGE“ und der Ideeninkubator Innovation Center Computer Assisted Surgery (ICCAS) der Universitätsmedizin Leipzig (UML). Dazu kommt eine breite Koalition der Unterstützung aus Wirtschaft, Forschung, Gesundheitswesen, Politik und Gesellschaft.

André Hofmann: Geschäftsführer der biosaxony Management GmbH
André Hofmann: Geschäftsführer der biosaxony Management GmbH
Dr. Ronny Schulz, Clustermanager Gesundheitswirtschaft und Biotechnologie der Stadt Leipzig
Dr. Ronny Schulz, Clustermanager Gesundheitswirtschaft und Biotechnologie der Stadt Leipzig
Eric Weber, Geschäftsführer von SpinLab - The HHL Accelerator
Eric Weber, Geschäftsführer von SpinLab – The HHL Accelerator
Prof. Dr. Thomas Neumuth, Technischer Direktor Innovation Center Computer Assisted Surgery (ICCAS)
Prof. Dr. Thomas Neumuth, Technischer Direktor Innovation Center Computer Assisted Surgery (ICCAS)

Fachkräftemangel aktiv ­entgegenwirken

Ein Themenfeld, das im Osten aus aktuellem Anlass tatkräftig angepackt wird, ist der Fachkräftemangel. „Quatschen statt Machen hilft ja bekanntlich nicht“, weiß Hofmann. Unter der Ägide von biosaxony werden deshalb zwölf Branchenfremde zu Good-Manufacturing-Practice-(GMP-)Operatoren für die Zell- und Gentherapie umgeschult. Das Konzept ist ein erster Probelauf, kann aber skaliert werden, um Bedarfen aus der Pharmabranche gerecht zu werden.

Dringend benötigt werden Spezialisten an der Grenzfläche zwischen Medizininformatik und klinischem Datenmanagement. Auch hier geht Mitteldeutschland kooperativ voran: Regionale Hochschulen und Uni­versitäten bilden „Medical-Data-Manager“ sowie „Klinik-Integrationsberater“ aus und bieten Qualifizierungsprogramme für die ­Digitalisierung in der Medizin an. Die Leipziger Außenstelle der Lancaster University wirbt mit passgenau neu eingerichteten ­internationalen Bachelor- und Masterstudiengängen zu Data Science und Cyber Security.

Innovationen fördern – durch Vernetzung und Know-how

Dieser Grundgedanke aktiver Vernetzung und Kooperation zieht sich auch durch die Arbeit des ICCAS. Gemeinsam mit internationalen Industriepartnern wird hier anwendungsnahe medizintechnische Forschung und Entwicklung umgesetzt. „An uns wenden sich u.a. Unternehmen, die nur eingeschränkte Entwicklerkapazitäten haben oder die neue F&E-Projekte planen“, erklärt Prof. Dr. Thomas Neumuth vom ICCAS.

Im ICCAS wird derzeit aktiv an der Ausgestaltung smarter Medizin für das Krankenhaus der Zukunft geforscht. Dazu gehört beispielsweise die Analyse von 6G-Anwendungen in Zusammenarbeit mit klinischen Partnern. Aber auch ihre Expertise im ­Bereich regulatorischer, technischer und rechtlicher Rahmenbedingungen ist innovationsfördernd, wie Prof. Dr. Neumuth ­betont: „Durch die Medizinproduktezertifizierung können Unternehmen unsere Projektergebnisse ohne Aufwand für ihre eigenen ­Produkte nutzen.“

Aus Alte Messe mach New Economy: Auf dem historischen Fundament der „Messehalle 12“ (eine ehemalige Werkzeugmaschinenhalle auf dem BioCity Campus) entsteht für 62 Mio. Euro ein hochwertiger Labor-, Büro- und Co-Working-Komplex mit etwa 14.000 m2 Fläche als neues Innovationszentrum für Unternehmen der Smart Health und Life Sciences-Branche. Copyright: https://pkfotografie.com

Starke Region mit internationaler Strahlkraft

Doch wie steht es um das Dauerthema ­Finanzierung? „Hier gehen wir pragmatisch vor“, sagt Eric Weber vom SpinLab. Der ­Accelerator hat vor Kurzem den Frühphasen­fonds „Smart Infrastructure Ventures“ mit einem Volumen von ca. 14 Mio. EUR aufgelegt. biosaxony zieht nach und treibt zum einen den Aufbau eines Life-Sciences-orientierten VC-Fonds von 60 Mio. bis 80 Mio. EUR für die Region voran. Zum anderen wird ab Mitte 2023 die MEDICAL FOUNDRY, eine Kooperation von biosaxony und der Sächsischen Beteiligungsgesellschaft, jährlich drei Start-ups mit je 300.000 EUR Nachrangdarlehen ausstatten, um die ersten unternehmerischen Schritte zu erleichtern. „Wir sehen, dass wir zunehmend internationale Investoren oder global agierende Firmen wie die adesso SE anziehen, welche beispielsweise soeben in das Health-Start-up eCovery investiert hat“, so Hofmann. „International agierende Investoren suchen regionale Leader.“

Die Anpackmentalität zeigt sich ebenfalls daran, wie die Bürokratie an die Bedürfnisse der Innovationsförderung angepasst worden ist. „Hier in Leipzig drücken wir die Bewilligungs- und Bearbeitungszeiten nach unten“, so Dr. Schulz. Der Freistaat Sachsen investiert laufend in seine Verwaltung und stellt zielgerichtet Personal in seinen Genehmigungsbehörden ein. „Außerdem gibt es an jeder Ecke unserer Großbaustelle ‚Kümmerer‘, die ein agiles Team bilden“, sagen Dr. Schulz und Hofmann. Für Start-ups und KMU gibt es ein Mittelstandsprogramm, bei dem Leipziger Unternehmen bis zu 70.000 EUR Förderung erhalten können, z.B. für ­Zulassungen und Zertifizierungen.

Tatkräftige Lotsen bei rechtlichen Fragen

Der Amtsschimmel zieht sich durch ganz Europa: So sehen sich Medizinproduktehersteller derzeit mit neuen EU-Regularien, der Medizinprodukteverordnung (MDR), konfron­tiert. Unter dem Dach biosaxonys wurde deshalb in Leipzig ein Regulatory Service geschaffen, der insbesondere Start-ups und KMU entlastet, indem das Netzwerk die ­regulatorischen Funktionen übernimmt, bis hin zur Stellung der „Person Responsible for Regulatory Compliance“. In einer zentralen Service-Unit läuft zudem das Know-how aus vielen betreuten Unternehmen zusammen – so kann Unternehmen schnell und kompetent geholfen werden.

Was aus der Aufbaumentalität bereits entstanden ist: Die BioCity Leipzig und der BioCube mit 26.500 m2 werden bis 2026 durch mehrere kommunale und private Life Sciences-Neubauten mit über 60.000 m2 Labor- und Bürofläche ergänzt. Copyright: https://pkfotografie.com
Was aus der Aufbaumentalität bereits entstanden ist: Die BIO CITY LEIPZIG und der BioCube mit 26.500 m2 werden bis 2026 durch mehrere kommunale und private Life Sciences-Neubauten mit über 60.000 m2 Labor- und Bürofläche ergänzt. Copyright: https://pkfotografie.com

Bauen für eine smarte Zukunft

Ein wichtiger Baustein des Kraftwerks ist der biosaxony-Accelerator MEDICAL FORGE. Jährlich begleitet er acht ausgewählte (inter-)nationale Unternehmen durch die säch­sische Innovationslandschaft. Unterstützt wird bei regulatorischen Fragen, bei der ­Erstattung im deutschen Gesundheits­wesen und bei der Implementierung von ­Innovationen in der Gesundheitsversorgung. Ein kooperatives Netzwerk aus ­Gesundheitsversorgern, Unternehmen wie B. Braun und HP sowie zahlreichen weiteren Partnern und Unterstützern steht bei allen Fragen tatkräftig zur Seite.

Viele der internationalen MEDICAL-­FORGE-Teilnehmer möchten danach in der Region bleiben, was neue Herausforderungen mit sich bringt. Zum Glück ist auch hier die Baubrigade bereits aktiv: In den ­kommenden drei Jahren gehen ca. 60.000 m² Labor- und Bürofläche auf dem BioCity ­Campus an den Markt. 62 Mio. EUR investieren Leipzig und der Freistaat Sachsen in den Umbau der ehemaligen Messehalle 12 in ein Technologiegründerzentrum mit 14.000 m² auf dem BioCity Campus. Innenstadtnah und in direkter Nachbarschaft zur BIO CITY LEIPZIG, Uniklinik und Veterinär­medizin entsteht ein weiterer Wissenschaftscampus mit ca. 275.000 m² Nutz­fläche. Und direkt neben dem SpinLab wird die Halle 7 der ehemaligen Baumwollspinnerei für 19 Mio. EUR zu einem Digital Hub umgebaut – 6.000 m², die insbesondere für E-Health-Start-ups gedacht sind. Die smarte Medizin kann kommen – nach ­Leipzig und nach Sachsen.

Smarte Medizin und die Zukunft der Gesundheit – auf und abseits der Bühne

Die Leipziger scheinen den Filmhelden also kräftig nachzueifern. Aber es wird nicht nur am Innovationskraftwerk gebaut. Zu den ­berühmtesten Szenen in „Spur der Steine“ zählt der Marsch der Brigade Balla. Die Handwerker laufen mit federndem Schritt zum Marktplatz der Stadt und feiern dort ihre Erfolge. Auch das können die Leipziger: Auf dem BioCity Campus gibt es regelmäßig Feierabendrunden, bei denen sich Studierende und Kollegen der Institute und Unternehmen zum lockeren Austausch treffen.

Am 10. und 11. Mai 2023 begrüßen ­überdies die „Baubrigade“ und die Stadt Leipzig 500 Gäste aus dem In- und Ausland zur „future health xperience“ – ein Live­event, bei dem sich smarte Medizin zum Anfassen und Staunen präsentiert wird. Mit Leipziger Pfiffigkeit und im Spirit sächsischer Geselligkeit.

Der Artikel ist in der aktuellen Ausgabe „Smarte Medizin 1/23“ der Plattform Life Sciences erschienen, die sie hier als E-Magazin herunterladen können.

Autor/Autorin

Redaktionsleiter Plattform Life Sciences at GoingPublic Media AG | Website

Urs Moesenfechtel, M.A., ist seit 2021 Redaktionsleiter der GoingPublic Media AG - Plattform Life Sciences und für die Themenfelder Biotechnologie und Bioökonomie zuständig. Zuvor war er u.a. als Wissenschaftsredakteur für mehrere Forschungseinrichtungen tätig.