Bildnachweis: metamorworks – stock.adobe.com, Temedica.
Plattform Life Sciences: Bitte skizzieren Sie die Idee hinter Temedica. Was ist das Alleinstellungsmerkmal des Unternehmens?
Seibert: Ich komme ursprünglich aus dem Bereich Wirtschaftsrecht und habe mehrere Jahre beim Beratungsunternehmen McKinsey gearbeitet. Meine ersten Berührungspunkte mit personalisierter Medizin haben mich eher enttäuscht. Denn während viele Industrien seit vielen Jahren auf individualisierte und kundenzentrierte Angebote umgestellt haben, kamen mir viele Ansätze im Gesundheitswesen noch reichlich standardisiert und einheitlich vor.
Mein Ziel ist eine personalisierte, auf den einzelnen Patienten zugeschnittene Versorgung im Gesundheitswesen. Dies drücken wir mit unserer Temedica-Vision aus: „Crafting the future of personal health“. Um Therapien und Patientenangebote individualisieren zu können, braucht es unter anderem ein “360-Grad-Verständnis” des Patienten mit all seinen individuellen Besonderheiten. Dieses Verständnis erhalten wir nur, wenn wir anfangen, zusätzlich zu klassischen klinischen Studien auch andere Informationsquellen einzubeziehen und zu analysieren.
Bei Temedica enthüllen wir quasi die realen Geschichten um Patienten herum, indem wir unterschiedlichste Datenpunkte und Informationen zusammenführen, analysieren und daraus neues, wissenschaftlich-fundiertes Wissen generieren. Partner aus der Gesundheits- und Life Science-Industrie nutzen unsere Erkenntnisse, um auf dieser Grundlage bestehende Angebote, Therapien und Services zu verbessern und personalisierte Healthcare-Angebote zu entwickeln.
Temedica ist als App-Entwickler für digitale Patientenbegleiter gestartet und gewachsen. Durch den direkten Kontakt zu hunderttausenden Patienten erhalten wir fortlaufend Informationen über den Verlauf einzelner Patient Journeys, also beispielsweise wie es einem Patienten kurz nach der Einnahme einer Therapie oder nach einem Therapiewechsel geht. All diese Daten werden von uns, vorausgesetzt der Patient stimmt zu, anonymisiert und anschließend mit unterschiedlichsten anderen Informationen und Daten kombiniert. Durch diese Verknüpfung erhalten wir ein realistisches Bild über etwaig auftretende Probleme und dem Einfluss von Medikation und Umwelt auf spezifische Patientenpopulationen, welches es so im Markt noch nicht gibt. Dieses neue, von uns generierte Wissen spielen wir dann unter anderem unseren App-Nutzern zurück, die darüber beispielsweise Handlungsempfehlungen ableiten können oder die Informationen mit ihren behandelnden Ärzten teilen können. Aber auch Pharma- und Biotech-Unternehmen können von unseren Erkenntnissen profitieren, beispielsweise bei der Entwicklung von Therapien.
Friedrich: Nach meinem Medizinstudium in München und Irland und meiner Facharztausbildung in Neurochirurgie und Neuroradiologie war ich insgesamt mehr als zehn Jahre an Universitätskliniken in Deutschland beschäftigt, bis ich schließlich Temedica entdeckt habe und sofort begeistert war von der Vision des Unternehmens. Und so habe ich meine Uni-Karriere an den Nagel gehängt und mich quasi in das Abenteuer „Start-up“ gestürzt. Als Unternehmer lerne ich jeden Tag etwas Neues dazu und es macht unglaublich viel Spaß!
In diesen Tagen launcht Temedica die Real-World-Datenbank Permea. Mit Permea Insights und Permea Monitor bieten Sie Ihren Kunden zwei Kooperationsmodelle. Wie funktioniert Permea?
Friedrich: Permea ist mehr als eine Datenbank. Es handelt sich dabei um eine Plattform, die unterschiedliche Arten von Daten zusammenfügt und intelligent verknüpft. Damit werden hoch-wissenschaftliche fundierte Analysen und Erkenntnisse zu unterschiedlichen Fragestellungen im Gesundheitsmarkt möglich. Das Besondere ist die erstmalige Kombination von patientengenerierten Real-World-Daten mit einer Vielzahl von unterschiedlichen wissenschaftlichen und kommerziellen Datenquellen. So kann Permea neue Erkenntnisse über Therapien und deren Auswirkungen unter realen Bedingungen liefern.
Permea Insights richtet sich an Kunden, die eine ganz spezifische Fragestellung verfolgen. Im Zuge dieser Fragestellung ziehen wir alle relevanten Datenquellen zusammen, die es zur Beantwortung dieser Frage braucht. Dazu benutzen wir auch Technologien wie Machine Learning, Künstliche Intelligenz oder Natural Language Processing. So erhält der Kunde schließlich eine maßgeschneiderte Analyse, auf deren Basis er anschließend seine Entscheidung fällen kann.
Der Permea Monitor ermöglicht unseren Kunden einen so genannten „Echt-Welt-Einblick“ in die Versorgungsrealität und die Therapie von Patienten. Wir versetzen unsere Kunden in die Lage, selbständig Erkenntnisse aus passend zusammengestellten Datenquellen zu gewinnen. Im Vordergrund steht dem Kunden eine intuitive Nutzeroberfläche zur Verfügung, während unsere Algorithmen im Hintergrund laufen – auch hier kommt u.a. wieder Künstliche Intelligenz zum Einsatz. Jeder Monitor wird für den jeweiligen Kunden maßgeschneidert zusammengestellt.
Seibert: Mit Temedica vereinen wir die „250 km/h-linke-Spur-Welt“ rund um die Digitalisierung mit der hoch regulierten und strukturierten Gesundheitsbranche. Bei allem was wir tun versuchen wir, die linke Spur zu halten und nur dann die Spur zu wechseln, wenn regulatorische oder sicherheitsrelevante Gründe oder sonstige besondere Umstände das erfordern. So bewegen wir uns sehr schnell und adaptieren unsere Angebote kontinuierlich entlang der Bedürfnisse und Wünsche unserer Nutzer und Kunden.
Bislang gibt es kein Angebot wie Permea, welches vorhandene Datenquellen auf diese Art und Weise verknüpft. Nun geht es darum, das Angebot kontinuierlich weiterzuentwickeln und weitere Datenquellen hinzuzufügen und natürlich zu internationalisieren.
Insgesamt hat die initiale Entwicklung von Permea rund eineinhalb Jahre gedauert. In dieser Zeit haben wir nicht nur mögliche Anwendungsfelder identifiziert, sondern auch eruiert, wo es noch Datenlücken gibt oder wie man einzelne Datenquellen miteinander kombinieren muss, um schlussendlich ein besseres Gesamtbild zu erzielen. Da gibt es entlang der gesamten Wertschöpfungskette, insbesondere bei forschenden Unternehmen, große Unterschiede und es erfordert eine sehr investigative Arbeit.
Im September hat Temedica die Entwicklung des digitalen Begleiters „Brisa“ für Menschen mit Multipler Sklerose bekanntgegeben.
Seibert: Als Unternehmen Temedica sind wir quasi zweigleisig aufgestellt. Das eine ist die App-Entwicklung, das andere ist Permea – jedoch sind beide Bereiche eng miteinander verknüpft und ergänzen sich gegenseitig. Durch die Apps generieren wir neues Wissen über Patienten und in Permea sortieren wir dieses Wissen, welches wiederum den Patienten und der Entwicklung wertvoller Therapien zugutekommt. Brisa ist ein perfektes Beispiel für unsere App-Entwicklung.
Für mich ist die Entwicklung der Brisa-App auch eine Herzensangelegenheit, da ich im familiären Umfeld erlebt habe, wie wenig individualisiert die Versorgung von Multiple-Sklerose-Patienten stattfindet. Die Entwicklung von Brisa gemeinsam mit Roche ist sehr erfolgreich verlaufen. Nach dem gleichen Prozess entwickeln wir auch weitere Apps zur Patientenbegleitung mit anderen Pharmapartnern oder auch komplett in Eigenregie. Oberste Priorität ist, dass der Patient bestmöglich über seinen gesamten Krankheitsverlauf hinweg begleitet wird und gleichzeitig die Möglichkeit hat, über die App seinen Alltag zu unterstützen. Hierbei helfen ihm wiederum Analysen, die wir im Kontext von Permea generieren: beispielsweise ein Hinweis, dass Patienten einer bestimmten Medikation besonders wetterfühlig sind oder leichte Kost bei gewissen Erkrankungen und Co-Medikationen empfehlenswert ist.
Im Unterschied zu anderen Start-ups haben wir also kein reines App-Geschäft aufgebaut, sondern verknüpfen dieses mit einem datenbasierten Ansatz. Für eine maximale Zuverlässigkeit unserer Erkenntnisse, setzen wir medizinische Fragebögen oder digitale Biomarker ein, die qualitativ hochwertige Informationen generieren, die wir für Permea nutzen können. Von diesem Kreislauf aus Datengewinnung und Datenauswertung kann am Ende auch der Arzt profitieren, denn durch die gewonnenen Permea-Erkenntnisse lassen sich Therapien im weiteren Verlauf immer besser an die Bedürfnisse des Patienten anpassen. So haben wir schlussendlich ein Ökosystem aufgebaut, in dem sämtliche Stakeholder des Gesundheitssystems von Permea profitieren.
Friedrich: Tendenziell kann die Zusammenarbeit zwischen einem Digital-Health-Start-up wie Temedica und einem großen Konzern auch Herausforderungen mit sich bringen, wenn man aber die Zusammenarbeit als gemeinsames Projekt sieht, wird es zu einer Win-win-Situation. Roche besitzt eine enorme Expertise hinsichtlich Erkrankung und Therapie, und davon profitieren wir enorm. Als Start-up auf der anderen Seite sind wir sehr schnell und agil und sehr nah am Patienten. Im Rahmen unserer Produktentwicklung binden wir quasi von Tag 1 an Patienten, Patientenorganisationen und natürlich Ärzte ein.
Temedica ist Venture-finanziert und arbeitet u.a. mit dem MIG-Fonds und dem Family Office der Familie Strüngmann zusammen. Wie stellt sich die aktuelle Finanzierungssituation dar? Sind weitere Finanzierungsrunden geplant?
Seibert: Wir sind aktuell dabei, in diesem Jahr unsere Serie-B-Finanzierung vorzubereiten. Wir haben uns dafür entschieden, früher als nötig in die Serie B zu gehen, da wir das initial geplante Wachstum weit übertroffen haben und diesen positiven Lauf nun weiter stärken möchten. Hier spielt vor allem der Ausbau von Permea und die Internationalisierung eine große Rolle. Außerdem beobachten wir, dass wir mit unserem Ansatz einen immer stärker wachsenden Markt bedienen – das „Window of Opportunity“ hat sich kürzlich weit geöffnet!
Lange Zeit war das anders: Als ich 2016 mit Temedica gestartet bin, wurde zwar über Apps für Patienten und Real World Evidence gesprochen, aber gerade durch Corona sind digitale Patientenunterstützung und datenbasierte Entscheidungen auch außerhalb von Studiensettings quasi gang und gäbe geworden. Ein berühmtes Beispiel ist BioNTech und seine Nutzung der Real-World Daten aus Israel, um die Impfstoffwirksamkeit zu belegen. Es ist einfach notwendig geworden, auch andere wissenschaftlich fundierte Datenquellen zu nutzen, um relevante Entscheidungen schneller und besser treffen zu können.
Ein Ausblick: Welche Meilensteine liegen in den nächsten 24 Monaten auf dem Weg von Temedica?
Seibert: In den nächsten zwei Jahren werden wir uns in insgesamt zehn Indikationsbereichen in Deutschland und fünf weiteren Ländern aufstellen. Diese Indikationen umfassen neben Multipler Sklerose auch Psoriasis und onkologische Erkrankungen. Auf dem Weg dahin gibt es eine ganze Reihe von Meilensteinen. Darunter fallen beispielsweise Kooperationen mit Patientenvereinigungen, Wissenschaftlern, forschenden Pharma- und Biotechunternehmen und Partnern, die weitere spannende Datensätze haben, die uns bei Permea helfen können.
Mein persönliches Ziel ist es, in 2025 zurückzublicken und sagen zu können: jetzt helfen wir nicht nur hunderttausenden Patienten in vielen Ländern mit unseren Apps, sondern wir konnten auch potentielle Kausalzusammenhänge und Risiken identifizieren, welche die Patientenversorgung unterstützen und verbessern. Meine Arbeit macht mir vor allem deshalb großen Spaß, da ich mit Temedica nicht nur ein wirtschaftlich erfolgreiches Unternehmen aufbaue, sondern auch einen großen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Beitrag leisten kann.
Friedrich: Ich bin fest davon überzeugt, dass wir mit Permea einen Beitrag zur wissenschaftlichen Forschung und damit zur Entwicklung besserer und wirksamer individueller Therapien leisten werden und damit personalisierte Medizin in der Digitalisierung etablieren. Wir wollen weg davon, personalisierte Medizin ausschließlich in einem 1:1-Verhältnis mit dem Patienten umzusetzen, so wie ich es selbst zehn Jahre lang in der Klinik gemacht habe, sondern wir wollen eine individuelle Patientenbehandlung in einem besser skalierenden System schaffen!
Frau Seibert, Herr Friedrich, haben Sie herzlichen Dank für das interessante Gespräch!
Das Interview führte Holger Garbs.
Autor/Autorin
Die Redaktion der Kapitalmarkt Plattform GoingPublic (Magazin, www.goingpublic.de, LinkedIn Kanal, Events) widmet sich seit Dezember 1997 den aktuellen Trends rund um die Finanzierung über die Börse. Ob Börsengang (GoingPublic) oder die vielfältigen Herausforderungen für börsennotierte Unternehmen (Being Public), präsentiert sich GoingPublic cross-medial als Kapitalmarktplattform für Emittenten und Investment Professionals.